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Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau

Titel: Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joan Anderson , Susanne Aeckerle
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es nicht besser hinbekommen kann, wenn man einfach da ist, den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Das ist etwas Wunderbares.« Jemand klopft an ein Glas, und das Stimmengemurmel verstummt – es herrscht jetzt gespannte Aufmerksamkeit, alle Blicke sind auf die Frau der Stunde gerichtet. Joan schaut sich um wie ein erwartungsvolles Kind, offen für das Wunder, lebendig zu sein, egal, wie lange noch.
    Ihre Gäste wissen, womit sie sie erfreuen können – nicht mit Materiellem, sondern mit solchen Sachen wie einer Berührung, einem Kuß oder freundlichen Worten. Jemand hat ein Gedicht geschrieben über Hoffnung, Spiel und wie sie sich an jedem Tag erfreut, es folgen ein Lied, Kuchen und zahllose Trinksprüche. Mit feuchten Augen schaut sie sich im Raum um, nimmt Blickkontakt zu jedem Sänger auf, verfestigt die Erinnerung. »Man muß sich an alles erinnern«, hat sie mir stets geraten, »an die Höhen und die Tiefen. Wirf sie nicht in den Papierkorb, nur weil der Augenblick vorbei ist. Das sind die Schätze, |182| die du für den Rest deines Lebens trägst. Sie sind dazu gedacht, um deinen Hals zu hängen. Während du die einzelnen Perlen streichelst, kannst du dir sagen, ah ja, ich erinnere mich.«
     
    »Ms Anderson, Ms Anderson«, flüstert eine Stimme. Ich schrecke aus meiner Benommenheit auf und drehe mich nach der Stimme um. »Die Besuchszeit ist zu Ende«, sagt die Schwester, die mit ihren Medikamenten dasteht.
    »Natürlich«, antworte ich, habe fast vergessen, wo ich bin. Ich schüttele den Kopf und schaue auf die Uhr an der Wand – drei Stunden sind vergangen.
    »Es ist schwer, ich weiß«, sagt sie, ihr freundliches Mitgefühl ist ein willkommener Trost. »Offensichtlich hat sie Ihnen viel bedeutet«, fügt sie hinzu. Es schmerzt mich, daß sie von Joan spricht, als sei sie bereits gestorben. Aber Joan hat sich in der ganzen Zeit, die ich hier gesessen habe, nicht gerührt. Trotzdem kann ich nur schwer damit fertig werden, weil ich so oft zu ihr gekommen bin und sie still und schlafend vorgefunden habe – in sich ruhend und mit einem Ausdruck, als sei sie weit weg. Aber sie ist jedesmal aufgewacht. Ein Frösteln legt sich um mein Herz.
    »Du hast mich so weit gebracht«, flüstere ich. »Kannst du hören, wie dankbar ich bin?« In meinem Schmerz versunken, merke ich nicht, daß sie sich bewegt und ihre Augen geöffnet hat. Ihre langen, schlanken Arme strecken sich mir entgegen und ziehen mich an ihre Brust. Nach wie vor die Sammlerin, bis zum Ende. Wir atmen zusammen, ihr schwacher Herzschlag ist noch erkennbar, dann erschlaffen ihre Arme allmählich, und ich werde freigelassen.
    Ich richte mich auf und bleibe für einen letzten Blick neben dem Bett stehen. Ihr Gesicht zeigt einen Ausdruck der Zufriedenheit. »Wer sein Leben liebte, kann auch seinen Tod lieben«, sagte Theodore Roethke, und so scheint es zu sein. »Lebwohl«, sage ich. »Lebwohl, meine Freundin«, und dann gehe |183| ich rasch, wage nicht zu trödeln, bleibe nur kurz beim Schwesternzimmer stehen. »Glauben Sie, daß sie die Nacht überlebt?«
    »Das weiß man nie«, antwortet die Schwester, fast entschuldigend, und ich gehe weiter, betroffen von der Tatsache, daß es, egal wie technisch fortschrittlich wir geworden sind, keine Digitalisierung dieser bedeutenden Momente gibt.
    Ich trete aus der Tür. Die schwüle Nacht ist voller Endlichkeit. Unternimm etwas, selbst im Angesicht des Todes, würde Joan mir raten. Mein Schritt beschleunigt sich, als ob schnelles Gehen und der Übergang zum nächsten Ereignis diesen Abschiedsschmerz betäuben könnte. Ich schlucke schwer, lasse den Motor an und setze zurück, biege in meiner Hast mit quietschenden Reifen auf die schmale, zweispurige Straße. Zufällig läuft Mozarts Requiem im Klassiksender, und ich stelle es lauter, verlasse mich darauf, daß die Musik meinen Schmerz dämpft. Wo soll ich hin? Was soll ich tun? Ich kann nicht einfach nach Hause fahren und in mein Leben zurückkehren, als sei nichts geschehen.
    Minuten später finde ich mich auf dem Parkplatz der Pleasant Bay Gemischtwarenhandlung wieder. Mach langsam. Nimm dir Zeit, rede ich mir gut zu. Wenn ich eines aus der Erfahrung der letzten paar Jahre gelernt habe, dann ist es das Wissen um die Leere, die immer mit Veränderung einhergeht. Es gibt keinen Anfang ohne ein vollkommenes und befriedigendes Ende. Ich lehne meinen Kopf an den Sitz, und die Tränen beginnen zu fließen. »Joanie, Joanie, Joanie«, murmele ich im Rhythmus meines

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