Spaziergang am Meer: Einsichten einer unkonventionellen Frau
Reihe von Lektoren und Sekretärinnen vorbei, die sie alle mit Namen begrüßen. Davon abgesehen, daß sie das Alter erreicht hat, wo man weiß, wie man auf das Leben reagiert, ist sie auch noch mit dem Selbstvertrauen einer Dreißigjährigen nach New York zurückgekehrt. Wir schlängeln uns durch mehrere Flure, bis wir schließlich bei dem geräumigen Eckbüro des Verlegers von Norton ankommen. Als der Auftritt beginnt, halte ich mich zurück.
»Hallo, ich grüße Sie, Joan. Kommen Sie herein, kommen Sie herein. Ich freue mich so, Sie wiederzusehen.« Don Lamm eilt durch sein Büro auf sie zu. »Und auch Ihnen einen guten Tag«, sagt er und wundert sich sicher, wer ich bin.
»Joan Anderson«, stelle ich mich vor und strecke meine Hand aus. »Ich bin die Chauffeuse«, erkläre ich, da ich nicht darüber nachgedacht habe, wie ich mich vorstellen soll.
»Mehr als das«, wirft Joan ein. »Sie ist meine Freundin und Vertraute«, platzt sie heraus, »und selbst Schriftstellerin«, fügt sie hinzu, will gleich Reklame für mich machen, wie sie es vorgehabt hat.
Aber es ist eindeutig Joans Tag, nicht meiner, und Mr Lamm |171| bedeutet ihr, auf dem braunen Lederstuhl direkt vor seinem Schreibtisch Platz zu nehmen. Ich bemerke ihr Zögern, nachdem sie sich gesetzt hat, sie mustert ihre Umgebung und stellt ihr Gleichgewicht wieder her. »Wie war die Fahrt? Sind Sie gestern schon angekommen?« fragt er und bricht so das etwas unbehagliche Schweigen.
»Nein«, antwortet Joan. »Wir sind heute frühmorgens losgefahren. Und wollen heute abend auch wieder zurück. Ich bin im Ruhestand, wissen Sie«, sagt sie mit einem Zwinkern.
»Das kommt mir aber gar nicht so vor«, erwidert er und sieht zu dem Karton, den ich halte. Ich will ihn ihm gerade geben, als mir einfällt, daß, wenn Joan Hof hält, sie diejenige ist, die die Regie hat. »Also, worauf sind Sie in bezug auf die Stadien gekommen?« will er wissen. »Seit unserem Telefongespräch habe ich versucht zu erraten, worauf Ihre Ideen wohl hinauslaufen.«
»Tja, das war ein längerer Prozeß«, beginnt sie, erwärmt sich für ihr Thema. »Ich dachte früher, wenn man alt ist, hätte man eine Art Plateau erreicht. Aber ich habe erkannt, daß wir alle fähig sind, neue Tricks zu lernen. Solange wir leben, müssen wir uns verändern«, sagt sie mit Überzeugung.
Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Tut sie das nicht allein schon durch ihre heutige Anwesenheit hier?
»Es ist irgendwie merkwürdig, aber egal, wie alt wir sind, wir sind stets beunruhigt durch einen Mangel an Erfahrung – suchen immer nach Anleitung. Stimmen Sie mir da nicht zu?«
Er nickt, total entzückt, während sie ihm ihre neuesten Ideen vorträgt.
»Wach auf! Bleib wach! sage ich. Wissen Sie, Glaube und Hoffnung, diese Stärken, die wir gewonnen haben, als wir jung waren, sind im Alter um so wichtiger. Es ist schade, daß wir nur so wenig von unseren Stärken in den einzelnen Stadien nutzen«, fährt sie fort und wendet sich dann an mich. »Sei doch so lieb, und gib Don den Karton.«
|172| Vorsichtig nimmt er den Deckel ab und hebt die weißen Seiten aus dem Karton. Ich stelle mir vor, daß er weniger erwartet hat, nicht diesen beachtlichen Stapel, der jetzt vor ihm liegt.
»Sie behaupten also, wir können im Alter immer noch eine Art Autonomie und Wachstum aufrechterhalten?« fragt er sie.
»Allerdings. Aber nur, wenn wir auf unseren Körper achten«, erwidert sie und richtet sich in fast verführerischer Weise auf. »Eine ständige Sorgfalt, die Körpermaschinerie trotz Alter und Verfall funktionsfähig zu halten, ist unverzichtbar. Man muß ein Leben lang im Training bleiben. Es ist so leicht, dem Terrain, sozusagen, oder dem Licht und dem Wind die Schuld an unserem Versagen und unseren Rückfällen zu geben. Aber was den Körper betrifft, darf man sich keine Zeit für Selbstmitleid lassen.«
»Wenn man es recht bedenkt, scheint das so offensichtlich, und doch habe ich so ein Konzept noch nie gedruckt gesehen«, pflichtet er ihr bei.
»Kein Wunder, da wir in einer Gesellschaft leben, die alte Leute ans Bett fesseln will. Man kann kaum Weisheit von jemandem erwarten, der während seiner letzten Jahre nur herumliegt. Man muß den Tatsachen bis zum Ende ins Gesicht sehen. Ergibt das für Sie einen Sinn?«
»Aber gewiß«, sagt er, wendet eine Seite um, dann noch eine, liest ein paar Zeilen, wendet die Seite wieder um und hört derweilen mit einem Ohr zu. »Darum fand ich es so wichtig, daß
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