Spaziergang im Regen
Ihnen?«
»Mir geht es gut, Danke. Genau genommen ist alles hier wunderbar, weshalb ich froh bin, dass ich in diesen drei Tagen keinerlei Anlass hatte, mein Notfalltelefon zu benutzen.«
Shara nahm Jessa das Telefon aus der Hand, weil sie sie gut genug kannte, um zu wissen, dass das Gespräch keinen guten Ausgang nehmen würde, wenn sie sie weiter sprechen ließ. »Hiya, Derek.« Sie hörte eine Weile zu, während Jessa sie verärgert anstarrte, und sagte dann: »Nein, das glaube ich nicht. Hör mal zu, Derek, ich glaube, das ist ihr gutes Recht. Nein, es geht nicht darum, was es kostet –«
Jessa verdrehte die Augen und ging zurück in die Küche, um den Tisch abzuräumen, wobei sie sich dem Geräuschpegel nach nicht um die Unversehrtheit ihres Geschirrs zu kümmern schien.
Shara zog sich von dem Lärm zurück und ging durch die vordere Fliegengitter-Tür nach draußen, um die Unterhaltung unter vier Augen fortzusetzen. Als sie wieder zurückkam, konnte sie Jessa nirgends finden. Sie ging durch die Hintertür in den Garten und entdeckte Jessa, die am anderen Ende der Gemüsebeete stand und energisch die Essensreste unter den Komposthaufen mischte. »Jessa . . .«
Jessa beendete ihre Tätigkeit und schob sich dann an Shara vorbei zurück in die Küche, um ihre Hände zu waschen. Das Geschirr war bereits gespült und trocknete auf einem Gestell. Jessa fing an abzutrocknen.
»Finden Sie wirklich, dass Ihr Ärger der Situation angemessen ist?« fragte Shara.
»Der Situation? Ja, ich nehme an, dass mein Ärger nicht angebracht ist. Genaugenommen sind ja wohl Glückwünsche angebracht, oder? Da das ja gerade ihr Verlobter war. Was für einen Notfall hatte er denn? Konnte er sich nicht für das Muster der Hochzeitsliste bei Harrods entscheiden?«
»Nicht dass Sie das irgendwas angehen würde, aber Derek hat mir erst vor kurzem einen Antrag gemacht, und ich hatte bislang keine Veranlassung, mit Ihnen darüber zu reden. Ich kann einfach nicht verstehen, warum sein Anruf Sie so verärgert hat, selbst wenn es sich nicht um einen Notfall handelte!« Shara wurde nun selbst ärgerlich. »Was haben Sie eigentlich für ein Problem?«
Der Teller, den Jessa gerade noch abgetrocknet hatte, fiel auf die Spüle, zerbrach aber wie durch ein Wunder nicht. »Tu doch nicht so, als ob du das nicht wüsstest, Shara.«
» Was weiß ich?« fragte Shara entnervt.
Jessa schnappte nach Sharas Hand. »Das hier!« Sie zog Sharas Hand gegen eine ihrer Brüste und hielt sie dort fest.
Für den Bruchteil einer Sekunde bewegte sich keine der beiden, dann verwandelte sich Sharas Miene von Überraschung in Entsetzen, und sie zog ihre Hand zurück, gerade als Jessa ihren Griff wieder lockerte. Der plötzliche Verlust des Widerstandes ließ Shara zurücktaumeln, ehe sie sich auf dem Absatz umdrehte und aus der Küche rannte. Einige Sekunden danach hörte Jessa, wie die Schlafzimmertür zuknallte.
Kapitel 10
S hara lag auf dem Bett und wartete darauf, dass ihr Herzschlag sich beruhigen würde. Sie war von den widersprüchlichen Gefühlen und Reaktionen überwältigt, die in ihr kämpften, und konnte noch immer nicht glauben, was Jessa da gerade getan hatte. Wieder hatte sie keinen Bezugspunkt für etwas, das zwischen ihr und Jessa passiert war. Und dieses etwas war diesmal eine bodenlose Dreistigkeit. Aber dieser Gedanke wurde von einem anderen verdrängt, der sich in den Vordergrund schob: Was Jessa da getan hatte, war für sich genommen keine bodenlose Dreistigkeit gewesen. Unerwartet, ja, ein gesellschaftliches Tabu, vielleicht – zumindest in manchen Kreisen. Vielleicht war es ja ganz einfach: Eine lesbische Frau hatte vier Tage allein mit einer anderen Frau verbracht und bemerkt, dass diese ganz offensichtlich fasziniert von ihr war; sie hatte angenommen, dass diese Frau mehr empfand, und deshalb eine Entscheidung erzwingen wollen.
Shara drehte sich auf den Bauch und zog ein Kissen über den Kopf. Sie konnte nicht leugnen, dass sie von Jessa fasziniert war. Es war nicht nur ihre unbefangene Schönheit, es lag auch an ihrem schrulligen Humor, ihrer Intelligenz, ihrer Freundlichkeit und der stillen Anmut, mit der sie sich gab. In den vergangenen Tagen hatte Shara sie beim Meditieren und Wandern beobachtet, und wie sie es sich mit einem guten Buch auf der Couch bequem machte. Sie hatten über Musik und das Leben geredet; manchmal waren sie unterschiedlicher Meinung gewesen, und Shara hatte einen Einblick in Jessas hitziges
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