Spaziergang im Regen
Temperament erhalten, dem sie bereits fast bei ihrer allerersten Begegnung freien Lauf gelassen hätte. Sharas eigenes Temperament konnte mit Jessas mithalten, aber es gelang ihnen immer, in ihren erhitzten Debatten den Humor zu bewahren, und sie brachen unweigerlich irgendwann in Gelächter aus. Oder sie führten die Diskussion zu Ende, entweder in Einmütigkeit oder zumindest mit dem Zugeständnis, dass sie unterschiedliche Meinungen hatten, und ohne dass dabei ein schlechter Nachgeschmack zurückblieb. Das trug nur noch mehr zu Sharas Begeisterung für Jessa und der seltsam intimen Freundschaft bei, die sich so rasch zwischen ihnen ergeben hatte.
Freundschaft, Faszination . . . Anziehung? Nein!
Shara rollte wieder auf den Rücken und presste die Augenlider aufeinander. Sie war hetero. Sie hatte eine erfolgreiche Karriere. Derek wollte sie heiraten; er war charmant, gutaussehend und kam, nicht zu vergessen, von einer wohlhabenden Familie. Ihr Leben war gut. Sie fühlte sich nicht von einer Frau angezogen. Es war nur Einfühlungsvermögen. Genau das, was sie zu einer guten Schauspielerin machte. Was war schon dabei, wenn sie es genoss zu sehen, wie Jessas Kleidung sich an ihren Körper schmiegte oder den Blick freigab auf Flächen weicher Haut? Was war schon dabei, wenn sie es genoss, Jessa anzuschauen: diese ausdrucksvollen Augen, das leicht schiefe Lächeln und die weichen Lippen? Was war schon dabei, dass ihr eigener Körper so unverwechselbar und elementar reagiert hatte, als sie beim gemeinsamen Kochen Jessas Atem auf ihrer Haut gespürt hatte? War es nicht vollkommen natürlich, dass sie auch körperlich neugierig darauf war, was in dem Objekt ihrer intensiven Beobachtungen vorging?
Shara drehte sich auf die Seite und presste das Kissen mit beiden Händen gegen den Kopf, ehe sie sich wieder zurückfallen ließ und an die Decke starrte. Hör doch auf, dir selbst was vorzumachen. Du wirst Derek nicht heiraten. Du liebst ihn, aber du bist dir nicht mal sicher, ob du ihn überhaupt magst. Dein Leben ist zwar gut, aber nur oberflächlich, weshalb du gar nicht darauf warten konntest, von allem und von Derek Abstand zu bekommen. Deine Begeisterung für Jessa Hanson ist nicht das Problem, sondern ein Symptom. Und Jessa hatte kein Recht, das auszunutzen!
Als sie so dalag, wanderten ihre Gedanken zurück zu dem, was vorgefallen war, und sie kam zu dem Urteil, dass Jessas Verhalten durchaus als eine bodenlose Dreistigkeit gesehen werden konnte. Je mehr sie darüber nachdachte, desto ärgerlicher wurde sie, und sie begann sich die Auseinandersetzung auszumalen, die sie mit Jessa deswegen haben würde.
Sie war gerade auf dem besten Wege, sich so richtig in ihren Ärger hineinzusteigern, als die Musik in ihr Bewusstsein vordrang. Es war ein Klavierstück – präzise, besonnen, großartig. Shara dachte zunächst, dass Jessa die Stereoanlage eingeschaltet hatte, aber dann erinnerte sie sich daran, dass es so was in der Hütte gar nicht gab. Jessa spielte Klavier.
Langsam, während Jessa weiterhin spielte, fühlte Shara, wie aller Ärger von ihr wich. Sie fand, dass es wie Rachmaninoff klang, kannte sich aber nicht gut genug aus, um sicher zu sein. Eines war jedoch sicher: Jessas Talent als Pianistin war eindrucksvoll. Sie entschied sich nicht bewusst dazu aufzustehen, aber sie fühlte sich magisch von dem unwiderstehlichen Klang angezogen, den Jessa dem entlockte, was zuvor wie ein einfaches Klavier ausgesehen hatte.
Sie blieb stehen, schloss die Augen und stellte sich Jessas lange, schlanke Finger vor, wie sie mit müheloser Geschicklichkeit über die Tasten rasten. Sie verdrängte weitere Gedanken an Jessas Finger und rannte förmlich die Stufen zum Wohnzimmer hinunter. Zögernd blieb sie im Türrahmen stehen und sah zu Jessa hinüber, die mit geschlossenen Augen und mit in Falten gelegter Stirn spielte.
Nach einer Weile kamen Jessas Finger auf den Tasten zur Ruhe, und sie hob ihre Hände. Ihre Stirn glättete sich wieder, aber ihre Augen blieben geschlossen. Schließlich senkte sie ihre Finger wieder und die ersten Takte von Chopins Fünfzehnter Prélude, der Regentropfen-Prélude , wehten zu Shara hinüber.
Shara hatte das Stück schon einmal gespielt, aber nie aus dem Gedächtnis und nie so wie Jessa, unter deren geschickten Fingern das Klavier das beharrliche Geräusch von fallendem Regen perfekt nachahmte.
Jessas Kopf senkte sich nach vorn, aber in dem gedämpften Lichtschein von der Lampe beim Sofa
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