Spaziergang im Regen
dann werden Sie schon nicht schmelzen. Ziehen Sie Ihre Gummistiefel und Ihre Regenjacke an, und folgen Sie mir. Die Wolken haben sich übrigens während der letzten Stunde aufgelockert, und ich kenne eine tolle Stelle, zu der wir wandern können. Vertrauen Sie mir, es wird Ihnen gefallen. Sind Sie nicht gern im Regen spazierengegangen, als Sie noch ein Kind waren?«
»Schon, aber –«
»Ich schwör’s Ihnen, es ist jetzt noch genauso wie damals, nur mit dem Unterschied, dass Ihnen nicht gleich Ihre Eltern den Spaß verderben.«
Trotz aller Vorbehalte ging Shara mit Jessa zusammen hinaus in den Regen. Sie wanderten einen guten halben Kilometer auf einem Pfad durch die Wälder, und Shara war überrascht, wie sehr das Laubdach sie vor dem Regenguss beschützte.
Shara war Jessa leicht voraus, als sie nach dem Dickicht auf ein verwildertes Feld traten. Der Himmel schien heller, und es nieselte nur noch leicht. Sie blieb wie angewurzelt stehen und schaute sich um. Die ganze Welt sah aus wie frisch gewaschen, und Blätter zitterten in smaragdgrünen Schattierungen, als das Wasser sich auf ihnen sammelte und dann von den Spitzen tropfte. Der silbrige Himmel verlieh der Szene etwas Unwirkliches, und sie spürte, wie die Stille in sie sickerte.
Sie zog die Kapuze vom Kopf und hörte dem Flüstern des Regens zu und dem Trippeln des Wassers, das hinter ihr von den Bäumen tropfte. Sie konnte die Feuchtigkeit des Bodens unter ihren Füßen riechen und schloss die Augen, um sich auf den schwachen, berauschenden Duft zu konzentrieren. Mit geschlossenen Augen reckte sie ihr Gesicht gen Himmel und hieß die sanften Liebkosungen des Regens willkommen. Ein Lächeln schlich sich auf ihre Lippen, und als sie ihre Augen wieder öffnete, blickte sie direkt in Jessas.
Sie ging nach unten, noch immer in der Schlafanzughose und dem T-Shirt, in dem sie geschlafen hatte. Dabei legte sie nur einen Zwischenstopp ein, um ihr Gesicht zu waschen und sich die Zähne zu putzen.
Jessa war nicht im Gästezimmer, und sie hörte auch keinerlei Geräusche aus dem Rest der Hütte. Jessa war eindeutig wach, denn ein kleines Feuer brannte, und in der Luft hing der Geruch von frischgebrühtem Kaffee, vermischt mit etwas, das sie nicht erkannte, das aber angenehm und leicht exotisch duftete.
Sie bemerkte, dass der Schrank in der Ecke geöffnet war und dass ein handgewebter Teppich davorlag. Sie war überrascht, dass die wunderschön geschnitzten Türen offenbar so etwas wie einen kleinen Altar verborgen hatten. Sie sah eine dünne Rauchfahne von einem Räucherstäbchen aufsteigen und erkannte dies als die Quelle des exotischen Duftes. Die Vordertür stand leicht offen, und sie entdeckte Jessa, die auf den Stufen saß und die Gegend betrachtete. Die Hütte stand auf einer Anhöhe, vor der sich eine mit Feldblumen übersäte Wiese ausbreitete, die an den Wald grenzte, der gute fünfzig Meter vor der Haustür begann.
Zur Linken lag der durchfurchte Zufahrtsweg, an dessen Ende der schlammbespritzte Geländewagen stand, aber Jessa schien ihre volle Aufmerksamkeit der alten Eiche zu widmen, die am Rande der Lichtung wuchs. Sie saß vollkommen still, gebadet im frühen Morgenlicht, das ihre Haut goldbraun schimmern ließ und vereinzelte silberne Strähnen in ihrem vom Schlaf zerzausten Haar betonte. Jessas Arme und Beine waren entblößt. Sie hatte in einem Unterhemd und ausgewaschenen Boxershorts mit Paisleymuster geschlafen und sich nicht die Mühe gemacht, etwas überzuziehen, obwohl die Sonne bisher die Temperatur kaum über zehn Grad gebracht hatte.
Shara verspürte den fast überwältigenden Drang, sich auf die Stufe hinter Jessa zu setzen, ihre Arme um ihre Taille zu schlingen und sie in ihre eigene Wärme zu hüllen. Sie konnte beinahe fühlen, wie Jessa sich zurücklehnte, gegen ihren Körper, beinahe den sauberen Duft ihrer Haare riechen. Ihre Brüste kribbelten, als sie sich vorstellte, wie Jessa sich gegen sie entspannte, aber das Gefühl, das diese Vorstellung hervorrief, war nicht vorwiegend sexueller Natur. Natürlich nicht, du bist doch hetero, ermahnte sie sich. Trotzdem erschütterte sie das Maß, mit dem sie sich zu Jessa Hanson hingezogen fühlte. Das liegt nur daran, dass du in ein paar Monaten wortwörtlich in ihrer Haut stecken wirst –
»Guten Morgen.« Jessas Stimme riss sie aus ihren Gedanken.
»Wie –?«
»Ich habe den warmen Luftzug gespürt, als Sie die Tür geöffnet haben.« Und deine Anwesenheit schon lange
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