Spaziergang im Regen
konnte Shara das leichte Lächeln auf ihren Lippen erkennen und wusste, dass sie sich an ihren ersten Tag und ihren Spaziergang im Regen erinnerte. Sie wusste auch, dass Jessa damit die Erinnerung an das, was an diesem Abend zwischen ihnen geschehen war, auslöschen und durch etwas Besseres ersetzen wollte.
Shara fühlte sich auch zurückversetzt zu jenem regnerischen Nachmittag.
Sie sprachen nicht viel, Jessa machte sie nur auf ein Gebüsch aufmerksam, in dem eine Hasenfamilie lebte. Sie erzählte, wenn sie an sonnigen Tagen ganz still stand und geduldig war, kamen die Hasen irgendwann zum Spielen oder Fressen heraus.
Sie gingen weiter durch den Wald, und als sie auf einer Lichtung ankamen, konnten sie eine Hütte sehen, die ungefähr so groß war wie Jessas. Leonard war nicht zu Hause, aber Shara machte Harrys Bekanntschaft. Jessa gab ihr ein paar Apfelstücke, die sie extra in einer kleinen Plastiktüte in ihrer Jackentasche mitgebracht hatte, und Shara fütterte damit Harry und gewann sofort seine Zuneigung.
Kurz darauf machten sie sich wieder auf den Weg. Harry begleitete sie anfangs, aber als der Regen wieder stärker zu fallen begann, blökte er protestierend laut »Määäh!«, drehte sich um und rannte, sehr zu Sharas Vergnügen, schnell wieder zurück zu der kleinen Überdachung direkt neben der Hütte, wo er zuvor gelegen hatte.
»Er wird nicht gern nass, deshalb schläft er auch nie draußen. Im Winter lässt Leonard ihn in einem der Schuppen schlafen. Harry kann zwar Kühe nicht leiden, Wannenbäder aber noch weniger, weshalb er nicht gerade angenehm duftet.«
Shara behauptete, dass sie das nicht bemerkt hatte, und Jessa verdrehte die Augen. Sie machten sich darüber noch ein wenig lustig, aber Shara konnte verstehen, warum Jessa Harry mochte, mit seinem Hängebauch, seinen lautstarken Forderungen, hinter den Ohren gekrault zu werden, und seiner Abneigung gegen das Waschen.
Nach einer Weile verstummten sie wieder, und Shara genoss einfach nur den Regen auf ihrem Gesicht, den Rhythmus ihrer Schritte auf dem Boden und das Gefühl ihres eigenen Herzschlags, während die süße, vom Regen gesäuberte Luft ihre Lungen füllte.
Ungeachtet all dessen war sie sich sehr ihrer Begleiterin bewusst; Jessa wich anmutig und mit langen Schritten jedem Hindernis aus. Sie kannte die Gegend offenbar sehr gut und führte Shara zu einer kleinen Lichtung auf einer Anhöhe, die ihnen einen Rundumblick auf die sanfte Hügellandschaft bot.
Die Sicht war nicht sehr gut, und sie konnten die Hütte nicht sehen, was Jessa sehr enttäuschte. »Dann eben nächstes Mal«, sagte sie.
Shara grinste dümmlich-glücklich, weil dies wohl bedeutete, dass Jessa sie noch einmal dorthin bringen würde, zu ihrem ›besonderen Ort‹. »Wie viele Leute haben Sie denn schon hierher gebracht?« fragte sie aus einer Laune heraus.
Die Frage schien Jessa zu bestürzen. Sie hielt inne und starrte in die Ferne. Dann wandte sie sich Shara zu und schaute ihr direkt in die Augen. Dann sagte sie mit leiser Stimme: »Außer Ihnen . . . niemanden.«
Kapitel 11
S ie standen mehrere Minuten lang auf dem felsigen Hügel und schauten sich einfach nur an. Dann sagte Jessa: »Kommen Sie, es gibt eine Abkürzung zur Hütte. Der Weg ist aber etwas uneben; jetzt können Sie unter Beweis stellen, was für eine zähe Irin Sie wirklich sind.« Ohne auf Shara zu warten wanderte sie nach rechts los und sprang von einem Felsen.
Shara stockte der Atem. Jessa war bei ihrer Landung auf dem Felsvorsprung direkt unter der Stelle, wo sie standen, in die Knie gegangen, und als sie sich wieder aufrichtete, konnte sie sie hüftaufwärts sehen, also war sie nur gut einen Meter tief gesprungen. Wenn sie nach unten schaute, konnte sie allerdings erkennen, dass der Vorsprung weniger als einen Meter breit war und dass darunter ein steiler, felsiger Pfad verlief, den sie drohte hinunterzufallen, wenn sie bei ihrem Sprung den Halt verlieren sollte. Das schräge, felsige Schelf wäre an sich schon schlimm genug gewesen, ohne dass Jessa bereits den Großteil der Fläche in Anspruch nahm. Shara fand, dass es verrückt wäre zu springen und einen Bruch zu riskieren, kilometerweit von jeder Hilfe entfernt und einen Monat vor Drehbeginn. »Äh, nein. Ich werde lieber den gleichen Weg wieder zurückgehen, den wir gekommen sind.«
»Sie werden sich verirren. Kommen Sie schon, seien Sie kein Angsthase.«
»Und wenn ich ausrutsche? Das sind mindestens zwanzig Meter bis zum Fuß
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