Spaziergang im Regen
und warf einen nervösen Blick in Tonys Richtung. »Derek, können wir das besprechen, wenn wir im Hotel sind?«
»Nein. Wir können es jetzt besprechen. Was ist los, Shara?«
»Das sind jetzt . . . einfach keine guten Umstände. Ich bin müde. Ich habe in letzter Zeit wirklich hart gearbeitet, um mich auf diese Rolle vorzubereiten, und seit ich in New York gelandet bin, hatte ich einen vollen Terminkalender –«
»Hart gearbeitet? Diesem Mannweib hinterherlaufen? Hat dich das so ermüdet, dass du keine Begeisterung zeigen kannst, nachdem ich mehr als vierzehn Stunden auf der Reise war, um in dieses verfluchte Land zu kommen und dich zu sehen?«
Shara war entsetzt, weil sie wusste, dass Tony jedes Wort hören konnte, vor allem, nachdem sie die Verehrung für seine Wahlheimat in Tonys Worten gehört hatte. »Derek! Nur damit das klar ist: Was ich bisher von diesem Land gesehen habe, ist sehr schön. Und ich möchte nicht, dass du Jessa als . . . Mannweib bezeichnest.«
»Aber das ist sie doch. Was ist passiert? Hat sie dich gegen mich aufgebracht?«
Sharas durch Dereks Ankunft ausgelöste Benommenheit begann sich in Ärger zu verwandeln und drohte in Wut auszuarten. Sie schaute aus dem Wagenfenster, bemüht sich zu beruhigen und ihre Gedanken zu sammeln. Es gab kaum Verkehr, und sie waren schon nach links abgebogen und fuhren den See entlang in die Stadt hinein. Geradeaus konnte sie den Lichtschimmer der Wolkenkratzer sehen, aber die Skyline und der unverwechselbare Umriss des CN Towers waren von Nebel und Regen verschleiert. »Niemand hat mich gegen dich aufgebracht. Falls es dir entgangen sein sollte, ich habe neun Stunden damit verbracht, auf dich zu warten. Ich habe deswegen eine Probe, ein Fernsehinterview und ein Abendessen mit Vertretern der renommiertesten Plattenfirma für klassische Musik verpasst.«
»Du hörst dich ja an, als wärst du die Musikerin! Nichts von dem Müll hat doch irgendwas mit dir zu tun. Du bist doch nur ein Anhängsel! Was meinst du wohl, wie ich mich fühle zu wissen, dass du deine Zeit lieber mit Fremden, schlimmer noch, mit Musikern und Blutsaugern der Schallplattenindustrie verbringst als mit mir?«
»Du kennst diese Leute doch gar nicht und doch hält dich nichts davon ab, sie zu beleidigen –«
»Du kennst sie doch auch nicht. Was würde das ändern, sie zu kennen? Es bleibt doch bei der Tatsache, dass du lieber mit diesem Mannweib und ihrem Gefolge zusammen bist als mit mir, trotz all der Anstrengungen, die ich unternommen habe –«
»Und warum genau hast du diese Anstrengungen überhaupt unternommen, Derek?« Shara drohte die Beherrschung zu verlieren. »Und sag ja nicht, dass du es für mich getan hast. Wir wissen doch beide, dass das ein Haufen Schwachsinn wäre. Ist es der Unmut über meine Karriere? Beweinst du, dass mein Erfolg mir nicht genug Zeit dafür lässt, dir mehr Aufmerksamkeit zu widmen? Ist das der Grund, warum du so absolut dagegen bist, dass ich versuche, in dieser Filmbiographie so gut wie möglich zu sein?«
»Das ist doch absurd.«
»Dann sag mir, warum du hier bist, obwohl ich dir extra vorher erzählt habe, dass in dieser Stadt der Zeitplan am vollsten ist und obwohl du weißt, dass ich in den kommenden zwei Wochen in Berlin viel mehr Zeit habe und danach, noch viel bequemer für dich, in London?« Ehe er antworten konnte, fuhr sie mit immer lauter werdender Stimme fort. »Warum? Wegen irgendeinem irrationalen Unsicherheitsgefühl? Weil du glaubst, dass ein Monat in Gegenwart einer Lesbe mich selbst in eine verwandeln wird?«
Kapitel 19
S hara stand vor der Tür zur Wohnung und versuchte das Zittern in ihrem Bauch unter Kontrolle zu bringen. Sie wusste, dass die beinahe lähmende Nervosität zum Teil auf Erschöpfung zurückzuführen war. Ihre Augen brannten vom Schlafmangel und von der hellen Sommersonne, die erpicht darauf schien, den Regen vom Vorabend wieder wettzumachen, obwohl es erst gegen sechs Uhr morgens war, als das Taxi sie wieder zum Queen’s Quay zurückgebracht hatte.
Als sie sich etwas ruhiger fühlte, steckte sie den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um; ihr Herz pochte in Erwartung des Augenblicks, in dem sich ihr Leben ändern würde. Sie zögerte kurz, bevor sie die Tür aufschob, und dachte zurück an den Streit mit Derek.
Er machte sich über die Vorstellung lustig, dass sie lesbisch sein könnte, während die Erkenntnis in ihrem eigenen Inneren Wurzeln fasste und sich plötzlich alle Teile des Puzzles
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