Spaziergang im Regen
wusste, dass es nicht Jessa gehörte, und sie sog scharf die Luft ein, wobei ein leiser, gequälter Laut von ihren Lippen fiel.
Kapitel 20
D ie Schlafzimmertür war offen, und Shara hörte eine Stimme, die sie von irgendwoher kannte. »Jessica, du bist wirklich unglaublich. Erst lässt du mich fast bis zum Morgengrauen nicht schlafen, und dann bist du jetzt schon wieder wach. Vielleicht ist das ja auch ganz gut – ich muss nach Hause und mich umziehen. Ich kann ja schlecht mit den Klamotten von gestern Abend auf der Probe erscheinen.«
»Du kannst gern hier duschen und was von mir anziehen. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich dich so überbeansprucht habe. Ich weiß, dass ich anstrengend sein kann und –«
»Sei still, es war ja ganz mein Vergnügen. Also, wo ist mein Kleid?«
Noch bevor Shara sich bewegen konnte, kam die Frau aus dem Schlafzimmer. Shara wusste, wer sie war: Lucia Scattaglia, eine der Geigen im Orchester. Sie und Jessa hatten mal was miteinander gehabt.
Als Shara bei der ersten Probe aufgefallen war, dass die beiden sich kannten, hatte Jessa zugegeben: »Ich kenne Lucia, seit ich acht war. Sie war das erste Mädchen, das ich geküsst habe, aber ich habe sie schon über ein Jahr nicht mehr gesehen, das letzte Mal war in Wien. Damals hat sie ihr Talent als eine der Geigen bei den Wiener Symphonikern verschwendet – obwohl sie von einem anderen Orchester ein Angebot für die Erste Geige hatte –, nur damit sie in Wien bleiben und mit der Frau zusammenleben konnte, die sie damals als die Liebe ihres Lebens bezeichnet hat.« Sie hatte traurig mit den Schultern gezuckt. »Vielleicht gibt es das gar nicht, denn nun ist sie ja hier. Schade, dass ich in meinem vollen Terminkalender keine Minute finden kann, damit wir uns mal treffen und auf den neuesten Stand bringen könnten. Wie auch immer, Wien zu verlassen wird wohl für ihre Karriere sehr gut sein. Sie ist außerordentlich begabt und hat eine Karriere als Solistin verdient.«
Es sieht ganz danach aus, als hätte Jessa in ihrem Kalender doch noch Zeit gefunden , dachte Shara verbittert, während der Kummer ihr Herz zusammenpresste. Dabei half es auch nicht gerade, dass Lucia umwerfend aussah, besonders in ihrem schwarzen Schlüpfer, der ihren goldenen Teint betonte. Ihre Brüste waren nackt, und Shara errötete bei dem Bemühen, ihren Blick von ihnen abzuwenden. Sie waren klein und genauso gebräunt wie der Rest ihres durchtrainiert aussehenden Körpers. Lucia war größer als Shara und hatte kurzes, schwarzes Haar und große, braune Augen, mit denen sie Shara erschrocken anstarrte.
»Oh, Entschuldigung, ich wusste nicht, dass Jessica Gesellschaft hat –«
»Ich bin keine Gesellschaft«, unterbrach Shara schroff und kämpfte mit den Tränen, weil sie sich vor dieser Frau nicht zur Närrin machen wollte, was nach der letzten Nacht ein Einfaches gewesen wäre. »Entschuldigen Sie mich«, schob sie kurzangebunden nach und eilte blindlings auf die Tür zu ihrem Zimmer zu.
»Sprichst du mal wieder mit dir selbst?« fragte Jessa lächelnd, als sie aus dem Schlafzimmer kam. Ihr Haar war noch feucht von der Dusche, sie trug ein aufgeknöpftes Hemd, eine beigefarbene Hose und war barfuß.
Shara drehte sich zu ihr um, und Jessa wusste sofort, was sie dachte. Und sie konnte es ihr nicht einmal verdenken. Es war halb sieben in der Früh, sie war halb angezogen und hatte offenbar im selben Schlafzimmer genächtigt wie die Frau, die nun weniger als halbbekleidet vor ihr stand. Sie fragte sich auch, wieviel von ihrem Gespräch Shara mitbekommen hatte und wie sie es auslegen würde. »Shara, ich habe dich so früh noch gar nicht zurückerwartet –« Sie unterbrach sich, weil dies das Falscheste war, das sie hätte sagen können, denn obwohl es der Wahrheit entsprach, hörte es sich so an, als hätte Shara sie bei etwas Verbotenem erwischt.
»Offensichtlich«, sagte Shara höhnisch.
Lucia war inzwischen dabei, sich hastig in ihr Kleid zu zwängen und die hochhackigen Sandalen anzuziehen, die Shara zuvor nicht bemerkt hatte, obwohl sie verlassen vor dem Sofa gelegen hatten. »Jessica, wir sehen uns später auf der Probe. Shara, es war . . . äh . . . nett, Sie wiederzusehen.« Sie verzichtete darauf, Sharas Antwort abzuwarten, schnappte ihre Abendtasche und den Geigenkasten und stürzte der Tür entgegen. Sie erahnte den bevorstehenden Ausbruch und wollte nicht zugegen sein, wenn er eintrat.
»Ja, bis später, Lucia. Und
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