Spaziergang im Regen
entfernt. »Vielleicht hat sie recht.«
»Warum quält es dich dann so, dass ihr Verlobter zu Besuch kommt?« Lisa hatte sich noch nie zurückgehalten, aber als Jessa bei ihren Worten zusammenzuckte, wünschte sie sich, dass sie etwas weniger direkt gewesen wäre.
Jessa schloss ihre Augen, als ob sie das Vorübergehen einer Schmerzwelle erduldete. Als sie sie wieder öffnete, waren sie voller Tränen. »Ich verstehe es nicht, Lisa. Manchmal schaut sie mich an, als ob – Und wenn wir uns berühren, ganz harmlos berühren, dann fühle ich mich berührt –« Sie presste eine Faust auf ihr Herz. »Und ich weiß, sie fühlt es . . . sie fühlt etwas. Wie k-kann sie ihn dann heiraten?«
Wortlos ging Lisa zu ihr hinüber, nahm sie in die Arme und drückte sie schweigend an sich, während sie schluchzte.
Kapitel 18
A m Montag verließ Shara die Probe vorzeitig, um Derek vom Flughafen abzuholen, und verpasste so, wie das Orchester sich zum ersten Mal an Jessas neuer, noch namenloser Komposition versuchte. Sie war gekränkt, dass Jessa ihr die Partitur nicht gezeigt hatte.
Wie sich herausstellte, hätte sie ruhig der gesamten Probe beiwohnen können, denn Derek hatte wegen eines gewerkschaftlich organisierten Protestes auf der M25 seinen Flug verpasst. Er war zu ungeduldig gewesen, um auf den nächsten Direktflug aus Heathrow zu warten, also hatte er umgebucht. Der Flieger nach Amsterdam ging kurz nach dem, den er verpasst hatte. Er hatte es nicht für nötig befunden, Shara anzurufen und Bescheid zu geben. Noch nicht einmal dann, als er erfuhr, dass der Flug von Amsterdam nach Toronto mehrere Stunden Verspätung haben würde. Als er dann schließlich doch anrief, aus dem Flugzeug, war sie schon mit dem Chauffeur auf dem Weg zum Flughafen.
Sie war nicht in der Stimmung, sich mit Jessa auseinanderzusetzen, und angesichts der neun Stunden Wartezeit bis zu Dereks Ankunft bat sie den Fahrer, sie zu den Niagarafällen zu fahren. Auf der Fahrt fragte er, ob sie Radio hören wollte, und sie bat ihn, den Klassiksender einzuschalten. Sie biss sich auf die Lippe, als Jessas Stimme aus den Lautsprechern erklang; es war ein Zusammenschnitt des Interviews vom Morgen. Jessa wurde nach den Härten des Reisens befragt und wie sie mit eventuellem Heimweh fertig wurde. Jessas Stimme klang traurig, als sie antwortete, dass der beste Weg Einsamkeit zu vermeiden der sei, mit jemandem zu reisen, der einem viel bedeutete, dass ihr auf Reisen aber auch die Musik als Balsam diene. Shara schloss fest die Augen und versuchte den Schmerz zu ignorieren – ihren eigenen und Jessas.
Zu ihrer Erleichterung bat der Moderator kurz darauf Jessa darum, das Musikstück anzukündigen, das sie am meisten mit ihrer englischen Herkunft in Verbindung brachte. Jessa scherzte, das sei die englische Nationalhymne, God Save the Queen , stellte dann aber Die aufsteigende Lerche , von Vaughan Williams vor. Das Stück gab Shara stets eine Gänsehaut, auch ohne Jessas Einführung mit einer Stimme, deren Traurigkeit unmittelbar auf sie selbst zurückzuführen war. Während die einsame Violine durch die Luft glitt und eine Geschichte idyllischer Schönheit und musikalischer Eleganz erzählte, fühlte Shara sich zu einer kleinen Hütte auf dem Land zurückversetzt. Ihr Atem verfing sich in einem Schluchzer, und der kleine Laut schien eine Art Katalysator für den Verlust ihrer Kontrolle über den Schmerz zu sein, der ihr Herz zu verbrennen drohte, seitdem Jessa sie in eine Rolle irgendwo zwischen einer geschäftlichen Bekannten und einem notwendigem Übel verbannt hatte.
Als die Tränen zu fallen begannen, wollten sie nicht mehr aufhören. Obwohl sie sich mit aller Kraft darum bemühte, sich nicht auf sie einzulassen, ließen die Schluchzer ihren Körper erzittern und schmerzten in ihrer Kehle. Das Stück von Williams endete, und die Berliner Philharmoniker stimmten die unverwechselbaren ersten Takte von Beethovens Eroica an, eine Symphonie, dessen Schönheit, Stärke und Vielschichtigkeit Shara wie selbstverständlich an Jessa erinnerte. Wenn überhaupt möglich, verstärkte dies nur noch ihre Tränen.
Eine Reihe schlafloser Nächte, emotionale Entkräftung, das sanfte Wiegen des Luxuswagens und ein beruhigendes Stück von Tschaikowski, das im Anschluss erklang, sorgten dafür, dass sie überwältigt in einen erschöpften Schlaf fiel.
»Frau Quinn?«
Shara öffnete die Augen und sah den Chauffeur verständnislos an, bevor sie sich daran erinnerte, wo sie
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