Spaziergang im Regen
lehnte sich näher zu Lucia heran, »sie hat ihn hierher eingeladen, und er ist den weiten Weg von London geflogen. Glaubst du, die haben die Nacht mit Kartenspielen verbracht?«
»Na ja, du kennst ja den Spruch: Sex ist wie Bridge – wenn du schon keinen guten Partner hast, dann hast du hoffentlich wenigstens eine gute Hand . . .« Jessa lachte nicht über den Witz, und Lucia schüttelte ungeduldig den Kopf. »Jessica, du nimmst an, dass sie Sex mit ihm hatte, genauso wie sie annimmt, dass du Sex mit mir hattest. Aber du hattest keinen Sex mit mir, weil du in sie verliebt bist. Kann es nicht vielleicht sein, dass es bei ihr genauso war?«
Jessa verzog einen Mundwinkel zu einem halben Lächeln, das nicht ganz ihre Augen erreichte. »Ich hatte keinen Sex mit dir, weil du nicht danach gefragt hast, und als du dein Solo ausgearbeitet hattest – ja, ich finde es ist jetzt perfekt, ich weiß, dass du das nicht so siehst –, war es schon fast Morgengrauen.«
»Ich habe nicht danach gefragt, weil du von ihr geschwärmt hast. Glaub mir, Jessica, ich kenne dich gut genug. Wenn es sie nicht gäbe, dann hätte ich dich schon lange vor dem Morgengrauen davon überzeugt, dass ein Duett viel wichtiger gewesen wäre als mein Solo.«
Dieses Mal lächelte Jessa richtig, weil Lucia bezaubernd war, und weil sie froh war, dass sie wieder in ihrem Leben war. »Ich leugne nicht, was ich fühle, Lu, aber wenn sie mich lieben würde, hätte sie diese vier Wochen mit mir verbracht und ihm danach gesagt, dass sie ihn nicht heiraten kann. Sie hätte ihn doch wohl kaum zu einem Besuch eingeladen, während sie mit mir auf Reisen ist.«
»Vielleicht wollte sie sich nur ihrer Gefühle sicher sein, und die beste Art, dies zu tun, war, ihn wiederzusehen. Vielleicht wollte sie ja sogar mit ihm persönlich Schluss machen und konnte das Ende der Reise nicht abwarten.«
Jessa wandte den Blick ab, weil sie sich diese Theorie selbst hatte einreden wollen, nachdem sie Dereks Nachricht gelesen hatte. Aber dass Derek die Nachricht an sie und nicht direkt an Shara geschickt hatte, war besitzergreifend gewesen, beinahe triumphierend. Nicht gerade die Tat eines Mannes, der vorgeladen worden war, um schlechte Nachrichten in Empfang zu nehmen. »Wenn das wahr ist, warum hat sie dann die Nacht mit ihm verbracht? Sein Flieger ist gestern am frühen Nachmittag eingetroffen. Das hätte ihr doch wohl ausreichend Zeit gegeben, mit ihm Schluss zu machen. Wie oft musste sie es denn mit ihm treiben, um dann endgültig zu entscheiden, dass es aus ist und dass sie zu mir nach Hause kommen sollte?«
»Entschuldigung, aber wir haben hier ein paar Duzend Musiker, die auf deine Aufmerksamkeit warten«, unterbrach Lisa und rettete Lucia davor, auf Jessas Frage antworten zu müssen. »Es ist schlimm genug, dass du Lucia für das Solo wolltest statt der Ersten Geige, da wollen wir doch nicht die Gerüchteküche anfeuern, dass sie dafür mit dir geschlafen hat.«
»Gut zu wissen, Lisa, dass du noch immer Jessicas Mama spielst, wo sie so offensichtlich ihr Leben allein nicht in den Griff bekommt. Du solltest aber wissen, dass ich nicht mit deiner Tochter schlafe, es sei denn, sie würde mir vorher die Ehe versprechen. Ich komme aus gutem Hause, erinnerst du dich? Und sie kann ja nicht mehr behaupten, dass das nicht möglich wäre, wie vor all den langen Jahren, als ich sie verführt habe, weil es das mittlerweile nämlich ist – zumindest in Kanada.«
Lisa lächelte Lucia an. Sie hatte das Mädchen schon immer gemocht, und sie war enttäuscht gewesen, als sie sich auseinandergelebt hatten und Jessa die Affäre mit Stephanie begann. Damals dachte sie, dass ein Teil ihres Missfallens darauf beruhte, dass Stephanie Jessa überredete, eine PR-Agentin zu engagieren. Sie fand, dass Lisa damit überfordert war, Jessa in dem Maße zu Ruhm und Reichtum zu verhelfen, wie Stephanie es sich ersehnte.
Anders als Stephanie war Lucia eine begabte Musikerin und eine wirklich liebe Person. Ihre Familie hatte Jessa gern und sie hätten sie fast adoptiert, nachdem sie sich von dem Schock erholt hatten, dass Lucia lesbisch und ihre Freundschaft mit Jessa mehr als platonisch war. Im Nachhinein hatte Lisa vermutet, dass das einer der Gründe war, dass die beiden ein Paar geworden waren: Lucia wusste, dass ihre Familie Jessa gern hatte, und sie konnten kaum etwas dagegen haben – außer rein prinzipiell –, dass sie mit einer Person zusammen war, die sie sowieso bereits
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