Spaziergang im Regen
Danke.«
Shara entwich ein Laut, dessen emotionale Bedeutung Lucia nicht einschätzen konnte, weshalb sie ohne weiteren Kommentar durch die Tür verschwand. Sobald sie gegangen war, drehte Shara sich wieder um und setzte ihren Weg zu ihrem Zimmer fort.
»Shara?«
Sie hielt inne.
»Wollen wir nicht darüber reden?«
»Was gibt es da zu reden?« fragte Shara mit erstickter Stimme. »So wie es aussieht, solltest du wohl besser Schlaf nachholen; du hast in zwei Stunden ein Interview und danach eine Probe.«
»Wieso schaust du mich nicht an?«
Wenn ich das tue, dann sehe ich nur ihre Hände auf deinem Körper. Ihren Mund auf deinem Körper. Und das zerfrisst mein Inneres. »Wieso ziehst du dich nicht weiter an. Mein Quantum an fast-nackten Frauen ist für heute Morgen schon voll –«
»Es stört dich, dass Lucia die Nacht in meinem Bett verbracht hat«, stellte Jessa fest.
Diese sachliche Bestätigung des Sachverhalts war wie ein Dolch, der in der Wunde hin und her gedreht wurde, obwohl es natürlich auch bereits vorher klar gewesen war. Shara verschloss fest die Augenlider, drehte sich aber noch immer nicht zu Jessa um.
Jessa bemerkte dennoch, wie sich Sharas Rückgrat leicht versteifte, und legte es falsch aus. »Der Gedanke kotzt dich an, dass ich irgendwas anderes getan habe, als mich nach dir zu verzehren, während du’s mit deinem Verlobten getrieben hast, stimmt’s nicht? Du willst mich nicht, aber du willst auch nicht, dass irgendeine andere mich kriegt. Dir gefällt die Vorstellung, dass ich in den Kulissen auf dich warte, um dich anzubeten, wenn du gerade mal Zeit dafür übrig hast.«
Shara hörte die Verachtung in Jessas Stimme, und obwohl sie wusste, dass ihr eigenes Schweigen dafür gesorgt hatte, dass Jessa annahm, sie würde sich nichts aus ihr machen, erinnerte sie sich dennoch an die vielen Momente, in denen sie Jessa gezeigt hatte, wieviel sie ihr bedeutete.
Sie drehte sich um. Der Schmerz zerriss sie und sie hatte kein Ventil dafür. Sie wollte weinen, sie wollte schreien und um sich schlagen. Sie hasste sich selbst dafür, so lange damit gewartet zu haben, ihre Gefühle zuzugeben, dass Jessa sie mittlerweile aufgegeben und sich jemand anderen gesucht hatte. Sie hasste Derek, weil er die ganze Entwicklung erzwungen hatte, indem er in Toronto aufgekreuzt war und Jessa den Eindruck vermittelt hatte, dass Shara ihn hatte sehen wollen. Aber in diesem Moment hasste sie auch Jessa, weil sie so einfach aufgegeben hatte. Wie tief konnten ihre Gefühle denn sein, wenn sie bereits weniger als zwei Wochen nach ihrem ersten Kuss schon mit einer anderen ins Bett stieg? Konnte Jessa fühlen, was sie selbst fühlte, und doch den Händen einer anderen Frau erlauben, ihren Körper zu berühren? Dem Mund einer anderen Frau? Sie rang um Worte, um ihren Schmerz und Ärger angemessen auszudrücken, fand aber keine. »Fahr zur Hölle, Jessa!«
Jessa zuckte zusammen, als Shara die Tür hinter sich ins Schloss knallte. »Da bin ich schon«, flüsterte sie und drehte sich um, um in ihr eigenes Zimmer zu gehen.
Kapitel 21
A ls Jessa ohne Shara zur Probe erschien, nahm Lucia sie zur Seite und fragte leise: »Hast du alles mit Shara geklärt, oder glaubt sie noch immer, dass wir miteinander geschlafen haben?«
»Das haben wir doch auch, Lucia«, antwortete Jessa ebenso leise, jedoch mit einem Schuss Ironie in der Stimme, allerdings straften ihre geröteten Augenränder und ihre Blässe diesen Humorversuch Lügen.
Lucia entfuhr ein ungeduldiger Laut, und ihre Augen blitzten verärgert. »Aber nicht so, wie sie denkt. Hör auf mit dem Unsinn und beantworte meine Frage.«
»Warst du schon immer so herrisch?« fragte Jessa kraftlos, wobei ihr bewusst war, dass ihnen die anderen Musiker, die ihre Unterhaltung mitbekommen hatten, verwunderte Blicke zuwarfen, und Lisa starrte wütend in ihre Richtung. Sie seufzte resigniert, weil Lucia auf jeden Fall eine Antwort aus ihr herausbekommen würde, selbst wenn sie ihr dafür eine Szene machen müsste. »Nein, ich habe Shara nicht erklärt, dass du mit mir an einem großen Solo gearbeitet hast, für das bis vor zwei Tagen noch niemand die Partitur gesehen hat. Wenn sie glauben will, dass wir miteinander geschlafen haben, dann lass sie. Das kann für sie ja wohl kaum ein Problem darstellen, wenn es genau das ist, was sie zur gleichen Zeit auch mit ihrem Verlobten gemacht hat.«
»Woher willst du das denn wissen?«
»Ach, komm schon, Lu«, flüsterte Jessa heftig und
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