Spaziergang im Regen
mochten. Jessa jedenfalls schien nie sehr in Lucia verliebt gewesen zu sein. Vor allem nicht so, wie sie nun in Shara verliebt war. Lisa hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie Jessa mit der Schauspielerin bekannt gemacht und etwas in Bewegung gesetzt hatte, das sich nun als eine solche Katastrophe herausstellte.
Zwei Jahre nach dem Bruch mit ihrer eigener Familie – nachdem sie von ihrer sexueller Orientierung erfahren hatten –, hatte Jessa das Ganze noch einmal erlebt, jedoch diesmal indirekt und mit einem viel positiveren Ausgang. Das hatte ihr dabei geholfen, den unterschwelligen Schmerz und Ärger, der noch immer von damals vorhanden war, durchzuarbeiten und loszulassen. Dafür war Lisa Lucia und der ganzen Scattaglia-Familie sehr dankbar.
»Na, solange ihr beide in eurer Freizeit heiratet, kann mich das kaum jucken, aber diese Unterhaltung hier beginnt langsam nach einem Stelldichein auszusehen, also würde ich vorschlagen, dass ihr damit aufhört und euch an die Arbeit begebt.«
»Sì, mamma«, neckte Lucia. »Obwohl ich finde, dass du mir ein bisschen Spielraum gönnen könntest, weil ich am Donnerstag die Komposition deiner bambina dermaßen hervorragend spielen werde, dass es das wichtigste klassische Werk wird, das in diesem Jahr Premiere hat – vielleicht sogar das wichtigste in diesem Jahrzehnt!«
Lisa konnte sich nicht zurückhalten und lachte laut los. »Das sind ja mal gute Neuigkeiten. Also, wenn es dir möglich sein sollte, dich und dein Ego ohne fremde Hilfe auf die Bühne zu hieven, würde ich vorschlagen, dass mal jemand diese Probe auf die Beine bringt.«
Jessa brauchte ein paar Sekunden, um sich zu sammeln. Alles schien jetzt so unbedeutend: die Stelle, die sie bei diesem Orchester im nächsten Jahr antreten sollte, der Rest der Reise und ganz besonders die Probe, die ihr nun bevorstand. Um die Dinge schlimmer zu machen: Das Stück, das sie an diesem Morgen einstudieren wollten, war nicht etwa von einem Komponisten aus dem achtzehnten Jahrhundert, sondern ein sehr persönliches Werk, das sie für eine Liebe komponiert hatte, von der sie nun wusste, dass sie sie für immer verloren hatte. Verloren, noch bevor sie sie wirklich jemals hatte. Sie hatte zunächst erwogen, es Shara zu nennen, in der Hoffnung, so die Erinnerung an dessen Inspiration aus ihrer Seele zu vertreiben, dann aber beschlossen, dass sie damit Shara nur in Verlegenheit bringen und Derek Hohn entlocken würde.
Auch als es noch namenlos gewesen war, hatte festgestanden, dass sie es aufführen wollte – um den Heilprozess in der Stadt zu beginnen, in der sie sich niederlassen wollte. Sie wusste, dass es bei weitem das Beste war, was sie jemals geschrieben hatte, und sie war überrascht gewesen, wie schnell und mühelos es aus ihr herausgeströmt war. Es war ein musikalisches Gedicht: Jede Strophe stand für einen Abschnitt ihrer kurzen, stürmischen Beziehung mit Shara.
Die erste Strophe war zögerlich und melodisch, dominiert von dem Geigensolo, das Lucia so spielte, als ob es direkt aus ihrer Seele strömte und nicht aus ihrer Geige, was Jessa offenbarte, dass sie die Liebe, die in Wien zurückgeblieben war, nicht vergessen hatte.
Die zweite Strophe war ein Adagio, bei dem das Cello im Mittelpunkt stand, und in der die Verwirrung zum Ausdruck kam, die das Eingestehen ihrer Gefühle für Shara mit sich gebracht hatte. Das Tempo steigerte sich langsam während einer Passage, in der die Bratsche das melodische Thema trug und in der sie die schwindelerregenden Minuten zelebrierte, in denen sie sich geküsst hatten, ehe es in einem triumphalen Höhepunkt mit ausgeprägtem Rhythmus ausklang.
Die letzte Strophe wurde von derselben Melodie getragen wie die erste, zunächst nur in Fragmenten, mit einem quälenden Widerhall vom Cello, ab und an betont durch die Oboe. Dieser quälende Widerhall war, in Jessas Herz, der Klang einer wunderbaren, instinktiven Freundschaft, überschattet von den Verwicklungen einer erwachenden Liebe.
In den letzten Takten gab es kein Melodrama, kein großes Finale. Es gab nur die ruhige Klarheit eines sich herausstellenden Liebesthemas, gespielt von den Geigen in Harmonie mit den Bratschen. Es war eindeutig der Klang des Herzens einer Frau, das um etwas weinte, dessen sie sich unumstößlich sicher war – um etwas, dessen sie sich zudem unumstößlich sicher war, es verloren zu haben.
Nachdem sie es zum ersten Mal gespielt hatten, brachen die Musiker in spontanen Applaus aus. Sie
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