Spaziergang im Regen
tust. Ich nehme an, ich habe beim Warten jegliches Zeitgefühl verloren. Nicht gerade intelligent.« Mit einem Mal wünschte sie sich, der Boden unter ihren Füßen würde sich auftun und sie verschlucken.
»Nicht in der Eingangshalle zu warten war definitiv nicht sehr intelligent. Hattest du Sorge erkannt zu werden?« Jessa nahm ein Baguette aus dem Ofen und brach es ganz nach französischer Art mit den Händen in Stücke. Auf dem Tisch standen bereits zwei Gläser und eine Flasche Mineralwasser.
»Nicht wirklich. Ich musste nachdenken, und das hätte ich nicht gekonnt, wenn mich der Portier dabei beobachtet hätte.«
Jessa nickte, als ob sie Sharas seltsame Logik verstand. »Komm, setz dich und probier die Suppe.«
Shara nickte zustimmend, plötzlich von Heißhunger überkommen. »Danke. Das riecht lecker. Wie hast du die so schnell gemacht?«
»Ich hatte Gemüsebrühe im Kühlschrank. Ich koche gern, wenn ich zu Hause bin. Nichts Ausgefallenes, aber wenigstens weiß ich, was drin ist.«
Sie aßen in Stille. Shara lehnte einen Nachschlag ab, weil sie sich davor fürchtete, dass ihre Übelkeit wiederkehren könnte.
»Shara, warum bist du hier?«
Von der Frage überrumpelt ließ Shara den Löffel in den fast leeren Suppenteller fallen. Natürlich wäre die Frage früher oder später gekommen, sie hatte keine Ahnung, warum sie keine Antwort parat hatte. Sie senkte den Blick auf ihre Hände. »Ich . . . weil ich gestern, als ich auf dem Weg zur Feier fürs Drehende war, zum ersten Mal Spaziergang im Regen gehört habe. Ich weiß, das klingt seltsam, jetzt wo ich weiß, was für ein großer Hit es ist, aber in den letzten fünf, sechs Monaten habe ich . . . das wirkliche Leben vermieden.«
Jessa war wie betäubt. Es hatte so weh getan, als sie annehmen musste, dass Shara die Vertonung ihrer Liebe zwar gehört, aber offenbar nichts dabei gefühlt hatte, das sie veranlasst hätte, sich bei Jessa zu melden. All die Lobeshymnen, die Preise und die erreichten Plattenverkäufe hatten sie nur verbittert. Nun zu erfahren, dass Shara die Musik überhaupt noch nicht gehört hatte, warf sie vollkommen aus dem Gleichgewicht. Gestern . Shara hatte es gestern gehört, gestern Abend, und es hatte sie veranlasst, in vierundzwanzig Stunden gut zehntausend Kilometer zu fliegen. In ihrem Kopf drehte sich alles, und ihr Herz pochte.
Sie stand auf und ging zum Fenster, wo sie blind auf die Schneeflocken starrte, die im Licht der Straßenlaterne vor ihren Augen tanzten. Sharas Worte und die ihnen innewohnende Bedeutung wiederholten sich immer und immer wieder in ihrem Kopf.
»Jessa, wenn ich gewusst hätte . . . Wenn ich von deinen Gefühlen gewusst hätte . . . wäre ich nicht gegangen. Ich hätte nicht weggehen sollen. Das ist mir jetzt klar.«
»Warum bist du dann hier?« fragte Jessa mit rauer Stimme.
»Ich bereue so vieles. Ich konnte nicht mit noch mehr Reue leben. Jeder Fehler, den ich dir gegenüber begangen habe, entstammte meiner Untätigkeit. Falls hierher zu kommen ein Fehler war, dann ist es wenigstens ein Fehler, weil ich etwas getan habe, und nicht weil ich vermieden habe, etwas zu tun.«
Sie sah die Angespanntheit in Jessas Körper, weil diese aber keine Anstalten machte, sich umzudrehen, ging sie zu ihr. »Mein erster Fehler war der, dich in der Hütte nicht anzuflehen, mich zu lieben, wo doch alles in mir das wollte.« Sie hörte Jessas leise Stöhnen und wusste, dass sie ihre volle Aufmerksamkeit hatte. »Mein nächster Fehler war in New York, als ich dir nicht verriet, dass du die wichtigste Person in meinem Leben geworden warst. Der dritte Fehler war der, Derek nicht zu sagen, dass er sich von mir fernhalten sollte, bis ich nach London kommen und mit ihm Schluss machen konnte. Der letzte Fehler war die Entscheidung, dass Lucia vielleicht besser für dich wäre, wenn du sie so offensichtlich wolltest. Ich hätte bleiben sollen, um dich kämpfen sollen, dich anflehen –« Tränen brannten in ihren Augen und liefen über ihre Wangen. »Bitte, Jessa, habe ich wieder einen Fehler gemacht?«
»Und du findest nicht, dass es ein Fehler war, in der Nacht in Toronto mit Derek zu schlafen, nachdem du schon fast den ganzen Tag vorher mit ihm verbracht hattest?«
»Hatte ich ja gar nicht. Sein Flieger kam erst kurz vor neun Uhr abends an. Ich hatte den Tag an den Niagarafällen verbracht und mit dem Fahrer in Toronto zu Abend gegessen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, und noch bevor wir sein Hotel
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