Spaziergang im Regen
nicht«, erklärte sie.
Sharas Blick fiel auf das unordentlich wiederverpackte Geschenk in Jessas Händen, und ein verwirrter Ausdruck legte sich auf ihr Gesicht.
Jessa drückte das Päckchen fester an sich. »Das ist von den Kindern, die du getroffen hast. In der Schule?«
Shara nickte ruckartig und wandte kurz den Blick ab, bevor sie fragte: »Dann verbringt also Lucia Weihnachten nicht mit dir?«
Jessa war plötzlich ärgerlich. All der Schmerz, den sie all diese Monate in sich getragen hatte, kam hoch und drohte in einem wütenden Ausbruch aus ihr herauszuplatzen. Aufgrund ihrer Vermutungen darüber, was zwischen Jessa und Lucia vorgefallen war, hatte Shara sie verlassen und sich einfach nie wieder gemeldet.
Den Rest der Reise über und auch während der gesamten Zeit, in der sie den Film vertont hatte, war Jessas volle Konzentration auf ihre Arbeit gerichtet gewesen, um den fast unerträglichen Schmerz zu bewältigen, der sie zu verzehren drohte. Er hatte sie auch sensibilisiert für jede Nuance des Liebesfilms, den sie auf der Leinwand betrachtete. Das Endprodukt ihrer Arbeit war von höherer Qualität, als sie zu hoffen gewagt hatte, der Produzent hatte sich zuversichtlich gezeigt, dass die Lieder und Themen, die sie komponiert hatte, kommerziell erfolgreich sein würden.
Aber das Projekt war nun abgeschlossen und ihre Zukunft gähnte ihr endlos entgegen. Wieder einmal trat der Verlustschmerz um Shara ins Scheinwerferlicht ihres Lebens, und nun stand Shara selbst – die Frau, die die Entscheidung getroffen hatte, alles wegzuwerfen – vor ihr und fragte sie nach Lucia.
»Es würde dich nichts angehen, wenn sie es täte«, zischte Jessa durch ihre Zähne hervor.
Die Rohheit ihrer Antwort schien Shara wortwörtlich umzustoßen. Sie trat einen Schritt zurück, um ihr Gleichgewicht wiederzuerlangen, und schaute dann unerschrocken in Jessas Augen. »Du hast recht«, sagte sie und konnte das Zittern in ihrer Stimme nicht unterdrücken. »Ich habe kein . . . Recht darauf.« Ihre Stimme war heiser. »Ich bin nur gekommen, um dir zu sagen, dass ich es gestern gehört habe. Es ist wunderbar, Jessa. Wunderschön. Als ich es hörte, war es, als ob . . . als ob ich alles noch einmal erleben würde, in leuchtenden . . . prächtigen –« Ihre Stimme versagte. Sie konnte nur Ärger in Jessas Gesicht ausmachen; Tränen traten in ihre Augen, fielen aber nicht. Sie dachte, dass sie vielleicht in ihren Augen gefroren waren, wie alles andere in ihr zu gefrieren schien, als sie die Abscheu in Jessas Gesicht sah. »Du hasst mich.«
Jessa wandte sich ab, unfähig eine solch ungeheure Unwahrheit auszusprechen.
»Na gut«, sagte Shara.
Sharas Stimme hatte gefestigter geklungen, aber als Jessa sich zu ihr umdrehte, sah sie, dass sie unkontrollierbar zitterte.
»Dann hass mich. Aber in der Nacht warst du diejenige, die mit Lucia geschlafen hat. Du hast das Stück geschrieben, also musst du das gleiche gefühlt haben, wie ich. Du hast es sogar –« Ihre Stimme versagte wieder, aber sie zwang sich weiterzusprechen. »D-Du hast es sogar Spaziergang im Regen genannt, also weiß ich, dass . . . du . . . auf dem Hügel –« Diesmal schien ihr das Zittern die Sprache zu rauben.
Jessa zog die Brauen zusammen. Sie war kurz davor gewesen, Shara anzufahren, aber dann hatte sie bemerkt, wie sehr sie bebte. Ihr fiel endlich auf, dass Sharas Haar pitschnass war, dass sie für einen englischen Winter viel zu dünn angezogen war, und dass der schmelzende Schnee ihre dünne Jacke durchnässt hatte. Nicht nur ihre Haut war bleich, auch ihre Lippen sahen blutleer aus, und ihre Zähne klapperten so stark, dass sie nicht mehr sprechen konnte. »Komm, wir gehen hoch«, sagte sie kurzentschlossen und streckte die Hand nach Sharas Arm aus.
Shara zog ihren Arm weg. »Nein.«
»Du holst dir hier draußen den Tod! Bist du mit dem Auto hier?«
»T-t-taxi.«
»Nun, denen ist heute Abend schwer beizukommen, also komm mit hoch und wärm dich auf. Du kannst dir danach ein Taxi bestellen.« Während sie sprach, nahm sie Shara wieder beim Arm und schob sie mehr oder weniger über die Straße.
»Frau Quinn.«
Der Portier schien sprachlos, als er Shara sah. Das überraschte sie nicht. Als sie angekommen war, hatte er ihr erzählt, dass Jessa nicht zu Hause war. Als sie ihn skeptisch angeschaut hatte – schließlich konnte Jessa ja direkt den Aufzug von der Garage in ihre Wohnung nehmen –, hatte er gelächelt.
»Ich mache
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