Spaziergang im Regen
»Magst du Pablo Neruda?«
»Ja. Ich finde seine Gedichte wunderbar.«
Noch bevor Shara sich nach dem Grund für die Frage erkundigen konnte, begann Jessa einige Zeilen aus Nerudas Gedicht Wenn Du mich vergisst zu zitieren, an das Shara sich vage erinnerte, dessen Bedeutung ihr bislang aber immer entgangen war:
»›Meine Liebe nährt sich von deiner Liebe, Geliebte, und solange du lebst, wird sie in deinen Armen sein, ohne die meinen zu verlassen.‹«
Kapitel 29
» S hara, wir sollten wirklich darüber reden, was passiert ist.«
Shara starrte weiter auf den Lautsprecher, aus dem die Arie Un bel di vedremo aus Madame Butterfly in Renée Flemings vorzüglicher Stimme erklang; das optimistische Lied einer Frau, die unumstößlich davon überzeugt ist, nicht umsonst geliebt zu haben. »Was gibt es da schon zu reden? Das ist doch ein Teil von dem, was ich, was wir beruflich machen: PR, Photographen, die öffentliche Neugier befriedigen.«
»Aber es ist nicht immer leicht damit umzugehen, und sie haben einen bis dahin perfekten Abend ruiniert.«
Shara wandte sich ihr nun doch zu. »Im Nachhinein war es trotz allem ein toller Abend, jetzt, wo genug Zeit vergangen ist, dass ich ignorieren kann, wie er aufgehört hat.«
»Wenn es so ein toller Abend war, warum fällt es dir denn dann in diesen Tagen so schwer, die Wohnung zu verlassen?«
Ein Lächeln legte sich auf Sharas Lippen, das aber nicht bis zu den Augen reichte. »Würdest du mir glauben, wenn ich sagte, dass ich dich keinen Moment alleinlassen will, weil uns diese kurze Zeit, in der wir beide nicht arbeiten, wie Sand durch die Finger rinnt?«
Jessa setzte sich neben sie auf die Couch und ergriff ihre Hand. »Ich bin ja auch gern mit dir allein zu Hause, das weißt du. Aber du willst ja nicht mal mit mir rausgehen. Ich finde es auch schrecklich, dass einer von Steves Gästen die Paparazzi angerufen hat, und es war einfach nur abartig, wie sie sich verhalten haben, aber deshalb kannst du dich doch nicht für immer verstecken. Glaub mir, wenn du dich in eine nur schwer fassbare Zielscheibe verwandelst, machen sie mit einem Foto von dir nur mehr Geld«, sagte Jessa mit einer Überzeugung in der Stimme, die nur aus persönlicher Erfahrung stammen konnte.
Shara sehnte sich nach beruhigendem Zuspruch, aber sie musste sich schütteln, als sie sich an die Ereignisse auf der Valentinstags-Party erinnerte.
Nachdem sie das Schlafzimmer verlassen hatten, waren sie zur Tanzfläche zurückgekehrt. Sie waren vollkommen ineinander versunken und wirbelten zu Sugar Sugar von The Archies und Mony von den Shondells herum. Als Roberta Flack The first time ever I saw your face anstimmte, drückte Shara Jessa an sich und kämpfte mit den Tränen.
Es waren kaum noch Leute da, als sie sich bei Steve bedankten und zur Haustür gingen, noch immer Hand in Hand und mit Vorfreude auf den Moment, die eigene Haustür hinter sich schließen zu können und allein zu sein. Um sich zu lieben und so die Versprechen zu bestätigen, die sie sich gegeben hatten. Gerade als Shara den ersten Fuß auf den Gehsteig setzte, leuchtete das erste Blitzlicht auf, und sie riss eine Hand vor ihre Augen. Jessa wandte ihren Blick ab, nur um von drei weiteren Blitzlichtern geblendet zu werden, von Photographen, die auf der anderen Seite standen.
»War es eine nette Party, Frau Hanson?«
»Frau Quinn, in welcher Beziehung stehen Sie zu Jessa Hanson?«
»He, Jessa, willst du uns nicht ein paar gute Schüsse machen lassen?«
»Jessa, sind Sie und Shara Quinn ein Paar oder nur befreundet?«
»Shara, kennen Sie Jessa Hanson von den Dreharbeiten zu ihrer Biographie?«
»Bitte mal lächeln!«
Die Fragen kamen fast gleichzeitig, und keiner der Männer – und es waren ausnahmslos Männer – gab ihren Opfern die Gelegenheit, auch nur eine davon zu beantworten, bevor sie sie mit der nächsten bombardierten. Sie drängten sich auch immer näher an sie heran, so dass Shara sich körperlich bedroht fühlte und sie Jessas Arm so fest umklammerte, dass sich ihre Fingernägel durch den Wintermantel hindurch in ihre Haut bohrten.
»E-Entschuldigung«, stammelte sie mit dünner Stimme, die kaum über die geschrienen Fragen und das Klicken der Kameras zu hören war.
»Hat wirklich keiner von euch Leuten ein Gewissen?« Jessas wütende Stimme unterbrach vorübergehend den Fragensturm. »Wir sind befreundet und waren gerade auf der Party eines gemeinsamen Freundes. Jetzt würden wir gern in unser Taxi steigen
Weitere Kostenlose Bücher