Spaziergang im Regen
und nach Hause fahren, ohne uns aus diesem verfluchten Gedränge loseisen zu müssen!« Sie griff nach einer Kamera, deren Blitzlicht gerade nur wenige Zentimeter vor ihrer Nase losgegangen war, zerrte sie zur Seite und erdrosselte dabei fast den Besitzer, um dessen Hals sie hing.
»He!« protestierte er so laut, wie er konnte. »Wir machen hier doch nur unsere Arbeit. Kein Grund, gewalttätig zu werden!« Die Aussage wurde sofort von mehreren seiner Kollegen wiederholt, während mindestens drei andere die Tat auf Film festhielten.
Jessa wurde sofort bewusst, dass sie einen taktischen Fehler begangen hatte, und sie versuchte sich zu beruhigen.
»Ihr wollt wissen, was Sache ist? Dann hättet ihr doch einfach fragen können, ohne euch gleich wie Idioten zu verhalten.« Sie deutete auf einen Photographen in der hinteren Reihe. »Sie! Sie scheinen ja zivilisiert zu sein. Ich gebe Ihnen drei Minuten, in denen können Sie mich ausquetschen und so viele Fotos von mir machen, wie Sie wollen. Geben Sie mir Ihre Visitenkarte, und meine Agentin ruft Sie dann morgen früh an, um einen Termin auszumachen.«
Zu verblüfft über ihre Kehrtwendung hatten alle für einen Moment damit aufgehört, Fotos zu schießen, und der angesprochene Photograph gab ihr in eifriger Dankbarkeit seine Karte. Sie legte eine Hand auf Sharas Arm und führte sie zum Bordstein, wo ein Chauffeur bereits mit laufendem Motor auf sie wartete.
Das brachte die Photographen wieder zu Sinnen, und ein erneutes Blitzlichtgewitter brach aus, das die Dunkelheit erleuchtete, bis die Limousine mit ihren Insassen außer Sichtweite war.
Jessa hielt ihr Wort und gewährte das Interview, in dem sie geduldig die Behauptung wiederholte, dass sie mit Shara befreundet war, dass sie sich schon vor den Dreharbeiten zu Maestra kennengelernt hatten, und dass sie zusammen bei einem gemeinsamen Freund eine Party am Valentinstag besucht hatten.
Leider tat das nichts gegen die hartnäckige Anwesenheit der freischaffenden Paparazzi vor ihrem Haus oder im Park auf der gegenüberliegenden Seite von Sharas Wohnung in South Kensington. Nach ein paar Tagen hatten Shara und Jessa genug davon und bepackten Dusty, um zur Hütte zu fahren.
In dieser einen Woche lernten sie die Bedeutung des Ausdrucks ›halkyonische Tage‹; sie fanden Zuflucht vor dem Sturm und sahen niemanden, mit Ausnahme von Harry, und hätten auch niemanden sehen wollen.
Shara las viel, unter anderem Sofies Welt und Fräulein Smillas Gespür für Schnee , zwei Bücher, die sie vor gut einem Jahr gekauft hatte und die – sehr zu ihrer Freude – Jessa auch besaß; außerdem verschlang sie die Gedichte von Pablo Neruda und Octavio Paz.
Einige Wochen zuvor, als sie in Clerkenwell spazierengegangen waren, hatte sie Jessa Wie Proust Ihr Leben verändern kann empfohlen, und sie freute sich, als sie sah, dass Jessa es an einem verregneten Nachmittag las, während sie zusammen auf dem Sofa saßen, das dem offenen Kamin am nächsten stand.
Sie gingen viel spazieren und redeten darüber, wie ihr Leben war, bevor sie sich kannten, aber nicht darüber, wie ihre Zukunft aussehen würde. Das schien nicht außergewöhnlich, schließlich befanden sie sich noch in der Kennlernphase, aber rückblickend hatte es einen schlechten Beigeschmack für Jessa.
Als sie wieder nach London kamen, zog sich Shara mehr und mehr in sich zurück. Zunächst dachte Jessa, dass sie es sich nur einbildete, weil sie schon sehr mit den Vorbereitungen für ihre Reise nach Argentinien beschäftigt war. Aber mit der Zeit musste sie sich eingestehen, dass Shara etwas bedrückte, das sie offensichtlich nicht mit ihr besprechen wollte. Sie kam zu dem Schluss, dass was auch immer es war durch die Ereignisse nach der Party und durch das Verhalten der britischen Boulevardpresse ausgelöst worden war.
Jessa hatte mit der Zeit gelernt, die Photographen zu ignorieren und sich einfach um ihre Angelegenheiten zu kümmern, nachdem sie während des Skandals um Stephanie beschlossen hatte, dass Fremde nur so viel Macht über sie hatten, wie sie ihnen gewährte, und dass sie Paparazzi nicht mehr Macht gewähren würde, als sie sich stehlen konnten. Sie wollte Shara besänftigen, aber ein Teil von ihr drängte danach, ihr zu raten einfach im Text weiterzumachen. Shara war stark und arbeitete seit einem Jahrzehnt im Licht der Öffentlichkeit. Jessa fragte sich, ob ihre Erwartungen an die Frau, die sie anbetete, übertrieben waren.
Als hätte sie ihre Gedanken
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