Spaziergang im Regen
völlig fertig sein. Aber ich habe ein paar tolle Neuigkeiten für dich. Komm doch einfach vorbei, wenn du dich ausgeschlafen hast. Dann trinken wir Tee und quatschen ein bisschen, und danach kaufe ich dir eine riesige, fettige Portion Fish ’n’ Chips, danach sehnst du dich doch bestimmt schon, oder?«
Die Rücksicht, die Herzlichkeit in Lisas Stimme und der freundschaftliche Ton erreichten, was Stephanies Boshaftigkeit nicht geschafft hatte: Jessa brach in Tränen aus. Unter Schluchzen, zwischen das sich ein Schluckauf schlich, erzählte sie Lisa die Kurzversion der Ereignisse. Lisa bestand darauf, dass Jessa nicht in ein Hotel ging, sondern umgehend zu ihr kam. Nach ausführlichem Trost über einer Tasse Tee berichtete sie dann, dass Jessa die Stelle der Dirigentin der Londoner Philharmoniker angeboten worden war.
Am nächsten Tag, als sie den Vertrag unterschrieb, erfuhr sie, worauf Stephanie hinauswollte, als sie über Lisas Träume gesprochen hatte. Stephanie hatte sich immer darüber aufgeregt, dass Lisa nicht mit Jessas Entscheidung einverstanden war, ihre sexuelle Orientierung zu verheimlichen. Statt dessen hatte sie ständig behauptet, dass die meisten Leute keinen großen Wirbel darum machen würden, wenn sie selbst normal damit umginge.
Einige Schlagzeilen waren sachlich: ›Neue Dirigentin lesbisch‹ und ›Lesbe neue Dirigentin der Philharmoniker‹. Aber die meisten waren sensationslüstern: ›Homosexuelle untergraben britische Kultur‹ und ›Eltern in Sorge – Schwule in klassischer Musik‹. Es gab keinen Zweifel daran, wer der Presse diese Informationen zugeschoben hatte.
Es gab fürchterliche Gerüchte über abartige Sexpraktiken und ›flotte Dreier‹, einige mit Fotos, auf denen Jessa, Stephanie und weibliche Prominente zu sehen waren und von denen Jessa wusste, dass sie aus Stephanies privater Fotosammlung stammten.
In den darauffolgenden Wochen wurden Fotos von ihrem privaten Zuhause – inklusive ihrem Schlafzimmer – veröffentlicht, und sogar eines von Stephanie, wie sie neben Jessas Krankenhausbett in Italien saß. Letzteres als der fast tödlich ausgegangene Unfall von Jessa ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt wurde. In den begleitenden polemischen Artikeln wurden auch Vermutungen laut, dass Kokain und Alkohol bei dem Unfall eine Rolle gespielt hätten.
Als der Skandal so richtig losgetreten wurde, litt Jessa noch immer so unter dem langen Heimflug und der Zeitumstellung – und, nicht zu vergessen, unter Stephanies Betrug –, dass sie unter Beruhigungsmittel gestellt werden musste. Innerhalb weniger Tage kam allerdings ihr hitziges Naturell wieder zum Vorschein, und sie trug sich mit dem Gedanken, Stephanie zu erwürgen.
Sie erklärte Lisa, dass sie zu ihrer Verteidigung geltend machen könnte, provoziert worden zu sein, und so sicher einen Freispruch erzielen würde.
»Nein, der Richter würde es für vorsätzlichen Mord halten, und du würdest bis an dein Lebensende eingesperrt. Und was denkst du wohl, würden die Klatschblätter dazu schreiben?«
Lisa gab nach einer Weile Jessas Drängen nach, den Philharmonikern die Chance zu geben, ihr Angebot zurückzuziehen, knüpfte daran aber trotz Jessas Protesten eine geringe Geldstrafe. Zu ihrer Überraschung lehnten die Philharmoniker ab, weil sie zahlreiche unterstützende Briefe ihrer Abonnenten erhalten hatten. Sie bestanden allerdings darauf, dass Jessa sich dem Thema stellen, in Talk-Shows und Nachrichtensendungen erscheinen und so einige der wilderen Anschuldigungen entschärfen sollte. Stephanie hatte gründliche Arbeit geleistet, und alles war in der Presse breitgetreten worden, auch Jessas jugendliche Affären mit Lucia und Daphne und die Entfremdung von ihren Eltern.
Jessa absolvierte den Spießrutenlauf der Presse, weil die Philharmoniker zu ihr standen und sie ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte. Manchmal musste sie vorher ein leichtes Beruhigungsmittel einnehmen, und sie war oft nur mit Mühe in der Lage, ihr Temperament unter Kontrolle zu halten, wenn sie über Dinge sprechen musste, die sie unter ihrer Würde fand.
Besonders nach den öffentlichen Auftritten, bei denen die Fragen und anderen Gäste danach ausgewählt worden waren, sie absichtlich auf die Palme zu bringen oder zu demütigen, kehrte sie zu Lisa und Paul zurück, um ihrem Ärger darüber Luft zu machen, oder, nach den schlimmsten von dieser Sorte, um sich darüber auszuheulen.
Nach einer dieser Heulattacken sah sie Lisa
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