Spaziergang im Regen
bezauberndste, weltgewandteste Kreatur, der Jessa je begegnet war. Daphne hatte beschlossen, dass eine kleine lesbische Affäre genau das war, was sie in dem Monat brauchte, während sie in London darauf wartete, dass ihre zwei Minuten lange Rolle in einem James-Bond-Film gedreht wurde. Und Jessa war nur allzu bereit gewesen, bei diesem Unterfangen mitzumachen. Daphne hatte angenommen, dass Jessa mindestens zwanzig war, und Jessa hatte beschlossen, diese Annahme besser nicht zu korrigieren.
Jessas Vater hatte seine Wohnung im Barbican beibehalten, da er nach seiner Zeit bei der britischen Kriegsmarine eine halbe Stelle in der Stadt hatte. Jessa stahl den Zweitschlüssel aus seinem Arbeitszimmer und traf sich mit Daphne in der Wohnung, mitten am Nachmittag, wenn sie niemandem über ihr Verbleiben Rechenschaft abliefern mussten. Die Affäre war für beide befriedigend, und Daphne war gerade dabei, diese Befriedigung lauthals zu verkünden, als Jessas Vater eines Tages überraschend in der Wohnung auftauchte.
Es wäre wahrscheinlich noch viel schlimmer für Jessa und Daphne ausgegangen, wenn er nicht seine Geliebte dabei gehabt hätte. Seine Empörung darüber, den Kopf seiner Tochter zwischen den Beinen einer anderen Frau vorzufinden, wurde durch den Umstand gemildert, dass sein Mund und Hals mit verschmiertem rotem Lippenstift übersät waren.
Jessas Mutter wurde eine einseitige Version des Vorfalls geschildert, und Jessa musste zu Lisa ziehen. Das Gebrüll und die Anschuldigungen, die ihrem Auszug vorangegangen waren, hatten für Jessa keine Bedeutung mehr, aber sie erinnerte sich noch deutlich daran, dass sie sich durch das Verhalten ihres Vaters betrogen gefühlt hatte.
Betrug. Sie hatte nicht gedacht, dass Stephanie sie jemals betrügen würde.
Stephanie hatte nie Probleme mit ihrem eigenen Lesbischsein gehabt. Mit fünfzehn hatte sie sich ihren Eltern gegenüber geoutet und deren Missbilligung so lange ignoriert, bis sie irgendwann damit aufhörten.
Stephanie nahm vor ihrem ersten persönlichen Treffen an, dass Jessa genauso war wie die anderen klassischen Musikerinnen, die sie über die Jahre durch ihr Cello kennengelernt hatte: sexuell unerfahren und sozial unbeholfen. Bei dem Gedanken sie zu verführen lief ihr regelrecht das Wasser im Mund zusammen.
Jessa dachte ihrerseits, dass Stephanie eine dieser Prominenten war, die es einmal mit einer Lesbe probieren wollten, und die keine Ahnung hatte, worauf sie sich einließ, als sie mit ihr zu flirten begann und ihr dann nach kurzer Zeit schon ein unzweideutiges Angebot machte.
Ihr erstes Mal hatte deshalb für sie beide ein paar Überraschungen parat, und sie mussten in den Jahren danach oft über ihre Fehleinschätzungen lachen.
Jessa war zwar verwundert, als Stephanie sie bat, ihre Beziehung geheimzuhalten, aber sie hatte nichts dagegen. In der klassischen Musikwelt, wo fast jeder außer den Solisten anonym blieb, war das nicht weiter schwierig.
Niemand nahm an, dass Jessa sich als Solistin einen Namen machen würde, trotz ihres erstaunlichen Talents und der Tatsache, dass sie gelegentlich bei bedeutenden Orchestern Solos spielte. Sie wurde immer als Wunderkind vorgestellt, aber – wie sie Stephanie zynisch erklärte –, dieser Bezeichnung würde sie bald entwachsen. Sie strebte sowieso eine Karriere als Dirigentin an, damit sie sich nicht zwischen ihren zwei Lieblingsinstrumenten entscheiden musste.
»Jess, ich finde, du solltest eine PR-Agentin einstellen.«
»Stephanie, ich brauche keine PR-Agentin. Mein Terminkalender ist voll, ich habe einen Vertrag mit einer großen Plattenfirma«, obwohl bis jetzt noch nichts dabei rausgekommen ist , »und Lisa ist ausgezeichnet darin, meine Karriere zu organisieren. Außerdem beschwerst du dich doch eh schon immer, dass ich zuviel unterwegs bin.«
»Du bist zwanzig Jahre alt, und du hast in deinem Leben mehr gemacht als die meisten Leute, die dreimal so alt sind wie du. Aber keiner außer Fans klassischer Musik kennt deinen Namen oder weiß, wie du aussiehst.«
»Na und?«
»Wenn du mehr Leuten ein Begriff wärst, dann würdest du mehr Platten verkaufen, mehr Geld machen und noch mehr gute Angebote bekommen.«
»Ich brauche nicht mehr Geld. Ich habe fünf verschiedene Orchester dirigiert, unter anderem das LSO. Findest du nicht, dass es in Habgier ausarten würde, wenn ich in meinem Alter noch mehr wollte? Ich bin überglücklich mit meiner jetzigen Karriere. Selbst wenn ich den Großteil des Jahres
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