Spaziergang im Regen
damit verbringen würde, Geige zu spielen, würden die meisten Leute, die ich kenne, einen Arm und ein Bein dafür geben, mit den Orchestern spielen zu können, mit denen ich schon Konzerte gegeben habe.«
»Okay, dann eben nicht des Geldes wegen. Aber wenn dich mehr Leute auf dem Podium sehen wollen, dann kann das vielleicht deinen Wechsel von den Instrumenten zum Taktstock in die Wege leiten –«
»Ich bin mir nicht sicher, Schatz«, unterbrach Jessa sie mit zusammengezogenen Brauen; sie hatte ein flaues Gefühl im Magen und war besorgt. »Mit dem Ruhm kommt der Stress, und du bist diejenige, die nicht will, dass ich mich oute.«
Stephanie machte eine wegwerfende Handbewegung. »Umso was würde eine PR-Agentin sich kümmern, da bräuchtest du dir keine Sorgen zu machen. Und wenn du berühmter werden willst, dann wäre es noch wichtiger, deine sexuelle Orientierung für dich zu behalten, damit die englische Mittelschicht sich mit dir identifizieren kann.«
Dieses Gespräch hatte eine Reihe von Ereignissen ins Rollen gebracht, die Jessa immer noch sauer aufstießen ließ. Die PR-Agentin trug nicht viel dazu bei, ihre Karriere voranzutreiben, weil die Leute, an die sie sich wandte, kaum ein klassisches Konzert besuchen oder CDs mit klassischer Musik kaufen würden. Statt dessen mutierte Jessa Hanson zur Londoner Reklameschönheit, und Stephanie gab sich als ihre beste Freundin aus. Jessa zeigte sich in Begleitung von männlichen Fotomodellen und Schauspielern, erschien zu Filmpremieren und in den Bars, die gerade hoch im Kurs lagen. Neben all dem fiel es ihr schwer, genug Zeit zum Üben ihrer beiden Instrumente zu finden, und sie gab nach einer Weile das Klavierspielen auf, weil sie mehr Angebote als Geigen-Solistin bekam.
Lisa warnte sie, dass ihre Berühmtheit als Teil der Schickeria ihren Bemühungen um Dirigenten-Jobs hinderlich war, denn das bestätigte nur das vorurteilsbefrachtete Bild derer, die sie bereits mit ihrem Alter und ihrem Geschlecht gegen sich aufgebracht hatte. Aber Jessa hörte nicht auf Lisa, weil sie in Stephanie verliebt war und außerdem herausgefunden hatte, dass sie einige der verbotenen Früchte sehr genoss, die ihr die Welt der Schönen und Reichen in London, New York, Mailand und Berlin bot. Der Tag, an dem sie in Italien ihren Porsche eine Böschung hinunterjagte, war der Tag, an dem alles zu einem abrupten Ende kam.
»Du hast mir solch einen Schrecken eingejagt, Jessa.« Tränen strömten über Lisas Gesicht, als sie neben Jessas Bett saß und ihre Hand hielt. »Ich weiß, ich habe mich immer aus allem herausgehalten, was nichts mit deinem Beruf zu tun hat, aber ich mache mir wirklich Sorgen um dich. Du bedeutest mir so viel, und mir gefällt einfach nicht, wie du mit dir umgehst. Jetzt bist du verletzt, und ich zermartere mir das Hirn, ob ich dies hier irgendwie hätte verhindern können.«
Lisa hatte angenommen, dass Jessa bewußtlos war, aber sie war gerade dabei aufzuwachen und hatte alles mitangehört. Sie erkannte plötzlich, wie sehr sie Lisa aus ihrem Leben ausgeschlossen hatte, obwohl sie doch von Anbeginn an, seit Jessas zwölftem Lebensjahr, immer eher wie ein Elternteil zu ihr gewesen war. Sie öffnete die Augen und hob mit Mühe ihre freie Hand an Lisas Wange. »Ach Lisa, dich trifft doch keine Schuld. Ich habe diese schlechten Entscheidungen ganz allein getroffen. Ich hab’ dich lieb.«
Damit schlief sie ein, ohne bemerkt zu haben, dass Stephanie nicht zugegen war, oder sich gar nach dem Grund dafür zu erkundigen. Stephanie war nicht krisenfest, daher war es nicht überraschend, dass sie erst einige Tage später zu Besuch ins Krankenhaus kam, als Jessa bereits von der Intensivstation entlassen worden war und sie sich nur noch um die Schmerzen von den gebrochenen Rippen, um das eingegipste Bein und um ihren kahlrasierten Kopf sorgen musste.
»Die Ärzte sagen, es grenzt an ein Wunder, dass deine Hände unverletzt geblieben sind«, sagte Stephanie während ihres ersten Besuchs, und aus irgendeinem Grund begann Jessa daraufhin zu weinen.
Es dauerte sechs Monate, bis Jessa wieder ausreichend Durchhaltevermögen und Beweglichkeit hatte, um wieder zu arbeiten, aber sobald sie damit anfing, ignorierte sie alles andere, sehr zu Stephanies Missfallen und dem der PR-Agentin. Jessa erhielt mehrere Angebote, in Asien zu dirigieren, weshalb sie viel dort auf Reisen war. Aber nach einem dreimonatigen Aufenthalt litt sie unter untypischem Heimweh, sagte ihr Erscheinen bei
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