Spaziergang im Regen
mit verschwollenen Augenlidern an und erklärte mit ernster Stimme: »Nie wieder, Lisa. Niemals wieder. Ich werde nie wieder mich oder sonst jemanden belügen, wenn es darum geht, wer ich bin. Jeder, der für dich ein Geheimnis bewahrt, hat unberechenbare Macht über dich. Wenn Stephanie mir, nach all den gemeinsamen Jahren, so etwas antun konnte, dann gibt es da keine Sicherheit, kein noch so tiefes Niveau, auf das sich jemand nicht herablassen würde.«
»Jessa, das darfst du nicht denken. Es wird immer Menschen geben, die deines Vertrauens würdig sind. Stephanie war nur kein solcher Mensch. Gib nicht den Glauben an alle Menschen auf, nur wegen ihr oder der Menschen, mit denen sie sich umgeben hat. Denk an all die Leute, die freundlich waren und dich unterstützt haben, und die das immer noch tun, sogar jetzt.«
Jessa erwiderte nichts, aber die Tränen strömten erneut über ihre Wangen.
»Folge ruhig deinen Instinkten und sei ehrlich über dein Leben, aber folge auch denen, die dir raten, für neue Menschen offen zu sein. Das wird sicherlich nicht sofort passieren, bei dem, was du gerade durchmachst, aber du darfst dich nicht verschließen.«
Nach einer Weile verlor die Presse das Interesse. Aber in der Zwischenzeit erfreuten sich die Philharmoniker eines erhöhten Spendenaufkommens, einer größeren Bekanntheit, aber auch zunehmender Missbilligung von konservativer Seite – Nebenwirkungen, die nicht auf dem Beipackzettel gestanden hatten, als die Entscheidung zugunsten Jessas als ihrer ersten weiblichen Dirigentin gefallen war. Jessa feuerte ihre PR-Agentin und wurde ein Star.
Jetzt, während sie verloren durch die Straßen von London lief, vorbei an den Restaurants der Upper Street, meilenweit entfernt von ihrer Wohnung und nach Sex riechend, erinnerte sie sich wieder an Lisas Ratschlag und fragte sich, wie sie mit einer Situation zurechtkommen sollte, in der ihre Instinkte, jemandem zu vertrauen und der Welt gegenüber ehrlich zu sein, in direktem Widerspruch zueinander standen.
Kapitel 32
A ls Jessa hereinkam, war die Wohnung in Dunkelheit getaucht. Sie schaltete eine Lampe an und war überrascht, Shara auf dem Sofa zu sehen, in Jeans und Pullover und mit ausdrucksloser Miene.
»Wird das immer so sein, Jessa? Dass du einfach aus der Bude rennst, wenn wir einen Streit haben, statt mit mir darüber zu reden?«
Sie verschwieg Jessa, dass sie mit einem Vater aufgewachsen war, der sie mit Schweigen bestraft hatte, oder vorgegeben hatte, sich stundenlang außer Haus um Mitglieder seiner Gemeinde kümmern zu müssen, wenn er ungehalten über ihr Verhalten war. Als sie noch klein war, hatte er immer eine Nachbarin darum gebeten, bei ihr zu bleiben, aber sobald er beschlossen hatte, dass sie groß genug war, um auf sich selbst aufzupassen, verließ er einfach das Haus, wenn sie gegen irgendeine Regel verstoßen oder ihn anderweitig verärgert hatte. Shara hatte sich immer damit getröstet, dass er sie niemals mit Worten oder Taten missbraucht hatte, wie manch andere Eltern, aber als Erwachsene war sie in der Einschätzung seines elterlichen Verhaltens nicht mehr so gnädig.
»Ich musste nachdenken«, sagte Jessa abwehrend.
»Und deine Gedanken konntest du mir nicht mitteilen?« Shara verbarg ihren Schmerz hinter einer ruhigen Fassade, denn schließlich war es nicht Jessas Schuld, dass sie so viele fürchterliche Kindheitserinnerungen wachgerufen hatte.
»Vielleicht ist ja alles viel zuviel und viel zu früh«, sagte Jessa und vermied es, Shara dabei anzuschauen. Sie zog ihre Jacke aus und ließ sie auf einen Stuhl fallen. »Wir haben uns im Sommer kennengelernt, aber dann haben wir uns monatelang nicht gesehen. Und als wir uns wiedergetroffen haben, sind wir praktisch gleich zusammengezogen.«
Weil sie dabei zum Kühlschrank lief, um sich etwas zu trinken zu holen, konnte sie nicht sehen, wie bei ihren Worten ein Ausdruck unerträglichen Schmerzes Sharas Gesichtszüge verzerrte.
Shara musste auf ihre schauspielerischen Fähigkeiten zurückgreifen, um nicht herauszuschreien, wie verraten sie sich fühlte. Sie wollte von Jessa eine Erklärung, was sie damit sagen wollte, aber in ihrem Herzen wusste sie bereits, dass es eindeutig auf eine Zurückweisung hinauslaufen würde, egal wie diese Erklärung ausfallen würde. »Schön«, erwiderte sie mit einer Stimme, die bis zum Zerreißen angespannt war. »Das Problem lässt sich einfach lösen. Du musst nicht stundenlang dein Haus verlassen, nur um nachdenken
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