Special - Zeig dein wahres Gesicht
und dann verblasste das Durchblicksbild ein wenig und die wirkliche Welt war wieder da. Shay streifte ihre Kletterhandschuhe über. „Also los, Tally-wa. Machen wir uns mal ein Bild von der Lage.“
„Können wir sie nicht über das Stadt-Interface hören?“
„Nur, wenn wir wollen, dass Dr. Cable mithört. Und ich würde das hier lieber unter uns Schlitzern behalten.“
Tally lächelte. „Okay, Shay-la. Also, unter uns Schlitzern, wie genau sieht unser Plan für heute Nacht aus?“
„Ich dachte, du wolltest Zane sehen“, sagte Shay, dann zuckte sie mit den Schultern. „Und außerdem brauchen Schlitzer keinen Plan.“
***
Klettern war dieser Tage einfach.
Tally hatte keine Angst mehr vor Höhen - sie ließen sie nicht einmal eisig werden. Sie verspürte nur eine ganz leise Warnung, als sie über die Dachkante schaute. Nichts, was sie in Panik versetzte oder nervös machte - ihr Gehirn riet ihr nur ein wenig zur Vorsicht.
Sie schwang beide Beine über die Kante und ließ sich sinken, wobei sie mit den Füßen die glatte Mauer von Pulcher Mansion absuchte. Als einer ihrer Griffschuhe sich in einen Spalt zwischen zwei Keramikflächen bohrte, hielt sie inne, so dass der Tarnanzug die Farbe des Hauses annehmen konnte. Sie spürte, wie die Schuppen sich verschoben, um die Oberfläche der Mauer zu imitieren.
Sobald der Anzug sich angepasst hatte, ließ Tally die Dachkante los. Halb glitt, halb fiel sie nach unten, ihre Hände und Füße schrappten über die Keramikfläche, schossen wild umher auf der Suche nach weiteren Spalten, Fensterrahmen und nicht richtig reparierten Rissen in der Mauer. Nichts davon war kräftig genug, ihr Gewicht zu tragen, doch jeder kurze Halt für Hand oder Fuß verlangsamte sie ein wenig und immer hatte sie ihren Abstieg unter Kontrolle. Es war eine aufregend filigrane Angelegenheit und Tally kam sich vor wie ein Insekt, das zu rasch über einen Wasserspiegel huscht, um darin zu versinken.
Als sie Zanes Fenster erreichte, hatte Tally ein hohes Tempo drauf, aber ihre Finger schnellten hervor und bekamen die Kante problemlos zu fassen. Ihr Körper schaukelte heftig zur Seite, doch die Griffhandschuhe hafteten wie angeklebt an der Fensterbank und Tallys Schwung nahm langsam ab, während sie hier hin und her pendelte.
Tally hob den Kopf und sah Shay einen Meter über sich, wie sie auf einer winzigen Fensterkante balancierte, die nicht mehr als einen Zentimeter aus der Mauer ragte. Ihre behandschuhten Hände waren gespreizt wie fünfbeinige Spinnen, aber Tally konnte nicht erkennen, wie das genügend Angriffsfläche bot, um ihr Gewicht zu tragen. „Wie schaffst du das?“, flüsterte sie.
Shay kicherte. „Kann dir nicht alle Geheimnisse verraten, Tally-wa. Aber es ist schon ein bisschen glitschig hier oben. Also schnell, hör mal rein.“
An einer Hand baumelnd klemmte sich Tally den Handschuh der anderen zwischen die Zähne und streckte einen Finger aus, um die Ecke des Fensters zu berühren. Die Chips in ihrer Hand registrierten die Schwingungen dort und verwandelten die Glasfläche in ein einziges großes Mikrofon. Sie schloss die Augen und hörte die Geräusche im Zimmer mit einer plötzlichen Intimität, als presste sie ihr Ohr an ein Trinkglas vor einer dünnen Wand. Ein Ping zeigte an, dass Shay sich mit ihrer Hautantenne einklinkte.
Zane redete, und der Klang seiner Stimme jagte Tally einen kleinen Schauer durch den Leib. Sie war so vertraut - und doch verzerrt, entweder durch die Abhörtechnik oder durch die Monate, in denen sie getrennt gewesen waren. Sie konnte die Wörter verstehen, erfasste aber ihre Bedeutung nicht.
„Alle festen, erstarrten Beziehungen mit ihrer Schleppe aus uralten und ehrwürdigen Vorurteilen und Meinungen werden weggefegt“, sagte er. „Alle neu geformten sind überholt, ehe sie sich festsetzen können ...“
„Was faselt der da?“, zischte Shay und verstärkte ihren Griff.
„Keine Ahnung. Klingt nach Rusty-Worten. Nach einem alten Buch.“
„Erzähl mir nicht, dass Zane den Krims ... vorliest ?“
Tally schaute verwirrt zu Shay hoch. Eine dramatische Lesung klang nicht besonders krim. Im Gegenteil. So etwas war absolut Zufall. Aber trotzdem machte Zanes Stimme weiter und sprach jetzt über irgendeinen Schmelzprozess.
„Schau mal rein, Tally-wa.“
Tally nickte und zog sich hoch, bis ihre Augen über die Fensterbank hinwegsehen konnten.
Zane saß in einem großen Polstersessel, hielt in der einen Hand ein altes, zerfleddertes
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