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SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

Titel: SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Opitz
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können, was ich nicht kann. Auf der anderen Seite habe ich mich damit zurechtgefunden. Ein bisschen amüsiere ich mich darüber, und zu guter Letzt schreibe und lehre ich darüber. Und das ist das Positive, was ich aus dieser Beobachtung gewonnen habe. Das heißt, es ist quasi eine aus der Not geborene Wissenschaft geworden.«
    Wenn er davon erzählt, merkt man, dass er darauf auch ein wenig stolz ist. Geißler ist emeritierter Professor für Wirtschaftspädagogik und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik. Zeitpolitik? Was das wohl bedeutet? Geißler bietet mir einen Espresso an, den ich gern annehme. Ich hatte heute erst zwei. Ich schaue ihm beim Hantieren in der Küche und im Wohnzimmer zu und erkenne, was er meint, wenn er über seine eigene Langsamkeit spricht. Als der Espresso fertig ist, setzen wir uns in den Garten und beginnen uns zu unterhalten. Warum denn heute so viele Menschen das Gefühl hätten, keine Zeit zu haben, will ich von ihm wissen.
    Â»Ja, wir haben nicht zu wenig Zeit, sondern zu viel zu tun oder glauben, zu viel zu tun zu haben«, antwortet Geißler. »Und zwar, weil wir so viele Möglichkeiten haben. Also die Geschwindigkeit, die wir inzwischen in der Produktion, im Verkehr und in der Freizeit, in der Unterhaltung erreicht haben, lastet uns immer mehr Optionen auf. Wir haben heute mehr Entscheidungs- und Wahlmöglichkeiten als je zuvor. Doch je mehr wir davon haben, desto mehr wollen wir auch realisieren.«
    Der Mensch wolle eben auf möglichst nichts verzichten. Also lade er sich immer mehr auf. Und dabei merke er nicht, dass darin letztlich die Ursache seiner Zeitnot liege. Der moderne Mensch packe dann drei oder vier Leben in eins und vervielfache Tempo und Pensum aus Angst, das Entscheidende zu verpassen.
    Â»Sie sollten also nicht fragen, warum Sie keine Zeit haben, sondern eher: ›Was kann ich dagegen tun, dass ich so viel zu tun habe?‹«, rät mir der Zeitforscher. Die Hetze komme natürlich auch daher, dass die Maschinen rund um die Uhr liefen, dass das Internet rund um die Uhr laufe, dass alles rund um die Uhr zur Verfügung stehe und dass wir uns daran orientierten. So würde ja zum Beispiel immer wieder darüber nachgedacht, den Sonntag abzuschaffen. Doch der Mensch könne vom Brot allein nicht leben. Er brauche einfach auch Ruhe im Leben und Zeiten, die nicht in Geld verrechnet werden. Aber eigentlich würden die meisten gern auch noch am Sonntag einkaufen und ins Internet gehen. Einfach um eine Option mehr zu haben.
    Geißlers Telefon klingelt mehrfach. Und der Professor erteilt mir, dem nervösen Hektiker, eher unbeabsichtigt eine kleine Lektion dessen, was er Zeitsouveränität nennt. Wenn bei mir das Telefon klingelt, gehe ich natürlich immer sofort dran. Immer. Allein um sicherzugehen, dass ich keinen dringenden Anruf verpasse. Ich unterbreche das gerade stattfindende Gespräch, um kurz ans Telefon zu gehen und dem Anrufer mitzuteilen, dass ich später zurückrufe. Abgesehen davon, dass das ziemlich absurd und hirnrissig ist, gehe ich damit auf einen Schlag gleich zwei Menschen auf die Nerven. Dem Gesprächspartner und dem Anrufer. Ich mache das trotzdem immer so. Ich kann nicht anders. Geißler schon. Er lässt es klingeln.
    Seit einiger Zeit schon beschäftigt mich die Frage, ob das Leben eigentlich wirklich immer schneller wird oder ob wir nur alle das subjektive Gefühl der Beschleunigung haben.
    Â»Na, es gibt Dinge, die sich nicht beschleunigen. Zum Beispiel die Abläufe der Natur, die beschleunigen sich nicht«, antwortet Geißler. Wir hätten immer noch sieben Tage die Woche und nicht acht. Wir hätten immer noch gleich lange Jahre, immer noch Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Aber was wir selbst produzieren, das würde sich verändern. Hier würden wir immer schneller. Weil wir in unserem Wirtschaftssystem Zeit in Geld verrechneten, müssten wir schneller werden, um mehr Geld zu verdienen und mehr Wohlstand zu produzieren.
    Â»Wenn wir von dem Zeitdruck wegkommen wollen«, sagt Geißler, »dann müssen wir mehr verzichten. Das ist die einzige Lösung. Darauf verzichten, mehr Geld zu verdienen, oder auf Möglichkeiten des Konsums verzichten.«
    Ich versuche mir vorzustellen, was genau Geißler mit verzichten meint? Auf was sollen wir denn verzichten? Auf Autos, Computer, Flugreisen? Auf all die Vorzüge

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