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SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit

Titel: SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Florian Opitz
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zu mir und sagt: ›Ich träume immer von dir mit so einem blauen Gesicht.‹ Weil ich immer in den Bildschirm geguckt habe, wenn ich mit ihr redete, nebenbei, ganz schnell, nur mal eben Mails gecheckt habe. Kinder sind das Analogste, was es gibt.«
    Der letzte Satz klingt lange nach bei mir. Ob er denn nach seinem Selbstversuch für eine Welt ohne Internet eintreten würde, wie es sich für einen erfolgreich entwöhnten Süchtigen gehört, will ich von Alex wissen.
    Das sei doch Blödsinn, antwortet er. Es sei nun mal da und habe ja auch enorm viele Vorteile, die er auf gar keinen Fall missen wolle. »Ich habe schmerzhaft bemerkt, wie klug das Netz ist, wie schnell, wie fantastisch organisiert. Ich finde das Netz ja auch toll, irgendwie«, sagt Alex. Das Schwierige sei eben, es in den Griff zu bekommen. Und dafür habe er auch nach dem halben Jahr keinerlei Rezept gefunden. Die Sogkraft sei doch enorm stark. Er könne jedenfalls jedem empfehlen, mal eine Zeit lang offline zu gehen. Bloß müsse man es ja irgendwie auch einrichten können in seinem Leben. Nicht jeder sei festangestellter Redakteur wie er. Deswegen müsse er sich morgen erst mal aufs herzlichste bedanken bei seinen Kollegen, die ihn ein halbes Jahr analog ertragen hätten.
    Nach fast drei Stunden ohne Pause ist unser Gespräch zu Ende. Auf einmal wird Alex hektisch. Er muss bis Redaktionsschluss noch seinen letzten analog recherchierten Artikel seiner digitalen Fastenzeit fertigschreiben. Die Zeit ist wie im Flug vergangen, und ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen. Eine Frage habe ich aber noch. »In einem Satz: Was ist denn jetzt dein Fazit, Alex?«
    Er zögert kurz. Dann antwortet er: »Schön war’s. Es war sehr schön, und ich bin heilfroh, dass ich morgen wieder ins Netz komme.« Alex grinst verlegen, und man merkt: Er kann es kaum erwarten.

Hartmut Rosa: Wo die Zeit hin ist, die wir durch die Technik gewinnen, ist nicht leicht zu beantworten. Aber man kann ein bisschen Licht ins Dunkel bringen, wenn man sich die Prozesse einmal genau anguckt: Man kann beispielsweise eine E-Mail doppelt so schnell schreiben wie einen normalen Brief. Wenn wir also früher am Tag zehn Briefe geschrieben haben und dafür eine Stunde brauchten und jetzt zehn E-Mails in einer halbe Stunde schaffen, dann haben wir dreißig Minuten freie Zeitressourcen gewonnen. Das ist erst einmal ganz toll. Aber ist es wirklich so gekommen? Nein. Weil wir nicht mehr nur zehn E-Mails schreiben, sondern inzwischen eher vierzig, fünfzig oder sechzig. Wenn nun also eine E-Mail doppelt so schnell geht wie früher ein Brief, dann brauchen wir heute trotzdem mehr Zeit zum Erledigen unserer Korrespondenz. Wir haben also insgesamt Zeit verloren.
    Und da wir aber unsere Zeit nicht beliebig ausdehnen können, müssen wir eben schneller werden. Das ist genau die Situation, die die meisten Menschen kennen. Wenn sie den Computer anmachen, tickern die Nachrichten ein, und man wird, wie auf einer Rolltreppe, nach unten befördert, und man muss nach oben laufen, um die alle zu beantworten. Und in dem Moment, da wir denken, dass wir oben angekommen sind und uns einer anderen Aufgabe widmen können, fahren wir die Rolltreppe wieder nach unten. Die Metapher der Sisyphusarbeit passt auf kaum etwas besser als auf das E-Mail-System. Jeden Morgen rennen wir den Berg hoch. Jeden Morgen wird der Berg ein bisschen höher. Jeden Morgen müssen wir ein bisschen schneller rennen und ein bisschen weiter, und am nächsten Tag sind wir wieder unten. Die Zeit, die wir durch die neue E-Mail-Technologie gewinnen, verlieren wir dadurch, dass die Zahl der Nachrichten, die wir ja nicht nur schreiben, sondern auch lesen und verarbeiten müssen, viel stärker gestiegen ist als die Geschwindigkeitsgewinne der neuen Technologie.
    Das Gleiche beim Autoverkehr. Natürlich geht es schneller, einen Weg von fünf Kilometern mit dem Auto zurückzulegen, als zu Fuß zu gehen, aber wir beschränken uns inzwischen eben nicht auf fünf Kilometer am Tag, sondern fahren fünfzig oder hundert. Wo man hinsieht, erkennt man immer wieder dieses Muster. Das Beschleunigungsproblem kommt also daher, dass die Wachstumsraten höher sind als die Beschleunigungsraten.
    Die Zeit wird auch knapp, weil das Missverhältnis zwischen Mensch und Technologie immer größer wird. Unsere modernen Geräte und Technologien können immer

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