SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Mailfreunde seien wieder aufs Papier zurückgegangen, um mit ihm in Kontakt zu bleiben, aber andere könnten einfach keine Briefe mehr schreiben oder wüssten teilweise auch gar nicht mehr, wie das mit dem Porto ginge.
»Und zu Hause war es ein riesiger Zugewinn. Ich glaube schon, dass ich mich geändert habe. Ich meine, ich bin kein anderer Mensch geworden, aber dieses bescheuerte Verhalten, diese Nervosität, diese vermeintliche »Nonstop-Totalinformiertheit«, die man da immer bedienen zu müssen meint. Dieses Mails-Checken, wie so eine Nuckelflasche. Immer braucht man süÃen Brei fürs Ego. Das hat dann einfach nachgelassen. Ich habe sehr gut funktioniert zu Hause ohne, sogar besser. Es gab wieder so etwas wie Feierabend. Was sich vorher völlig aufgelöst hatte, vollkommen. Die Abende, die ich frei hatte, habe ich auf jeden Fall konzentrierter verbracht. Wie es geht, ein paar Stunden am Stück zu lesen, hatte ich vergessen und es in dieser Zeit wiederentdeckt. Diese Monate, die ich hatte, waren auf jeden Fall qualitativ hochwertigere Zeit, würde ich sagen. Ich will da nichts reingeheimnissen. Ich will keine Sekte aufmachen. Aber dass das so einsickert in alle Lebensbereiche und in alle Zeit, die man hat, auÃer schlafen, aber das kommt wahrscheinlich auch noch, das war einfach unheimlich.«
Also doch. Ich bin erleichtert. Wie gebannt habe ich Alex bis hierher zugehört. Viel von dem, was er erzählt hat, kenne ich nur allzu gut aus meinem eigenen Alltag, und sein Scheitern wäre auch für mich ziemlich frustrierend gewesen. Ich sollte mir doch nochmal überlegen, ob ich nicht auch eine Zeitlang zur Entgiftung offline gehe, wie Dr. Sprenger es mir empfohlen hat. Fragt sich nur noch, was passiert, wenn man danach wieder ins digitale Leben zurückkehrt. Bei Alex ist es morgen so weit. Er wird wieder resozialisiert. Freut er sich drauf?
»Ich bin sehr gespannt, ich weià es nicht. Ich habe ziemlichen Schiss davor«, gesteht Alex.
»Echt?«, frage ich erstaunt.
Die Antwort überrascht mich doch. Ich hatte einen abgeklärten, geläuterten und überzeugten von der Sucht Geheilten erwartet. Ehemalige Raucher sind ja auch die überzeugtesten und fanatischsten Nichtraucher.
»Ich habe ziemlichen Schiss davor, ja klar, den BlackBerry will ich nicht wiederhaben.« Eigentlich bekäme man bei der SZ immer einen BlackBerry zum Dienstgebrauch, erklärt Alex. Aber er wolle lieber ein normales Handy haben. Zwar habe man ihm in der IT-Abteilung zuerst wieder gesagt, so etwas gebe es gar nicht mehr. Aber jetzt bekomme er doch eins. Ein altes Nokia, ohne Mail, ohne Internet. »Ich freue mich drauf, hier in der Redaktion wieder ein normaler Mensch zu sein. Aber ich habe auch Angst und bin sehr skeptisch, ob ich das hinkriege. Also, ob ich einen kontrollierteren Umgang damit hinbekomme. Zu Hause schalte ich das Internet erst mal nicht an. Ich bin hier neun Stunden im Netz, das sollte reichen. Aber ich weià nicht, ob es klappt.« Da bin ich auch gespannt.
Am Ende unseres Gesprächs mischt sich ein nachdenklicher Unterton in Alexâ launige Erzählung. Er scheint sich selbst nicht so ganz über den Weg zu trauen und sich auch noch nicht ganz klar darüber zu sein, was das halbe Jahr digitales Fasten mit ihm gemacht hat. Er hat ein Tagebuch darüber geführt, das demnächst veröffentlicht werden soll, gut, aber was langfristig passiert, steht in den Sternen. Vielleicht war alles umsonst, und in zwei Monaten ist wieder alles beim Alten.
Aber wo ich schon mal hier bin, versuche ich trotzdem, wenigstens ein bisschen aus ihm herauszukitzeln. »Was hat die Offline-Zeit mit dir gemacht? Hat der Selbstversuch nicht doch irgendwie einen Schalter bei dir umgelegt?«, frage ich ihn.
»Ich bin sehr froh, dass ich es gemacht habe. Ich fand, es war âne tolle Erfahrung«, sagt Alex. »So oder so.«
Ob er es auch anderen und speziell mir, seinem Leidensgenossen, guten Gewissens empfehlen könne? »Ich würde es dir als Vater empfehlen. Ja, auf jeden Fall. Ich empfehle es dir als zeitgestresstem Menschen und als Vater.«
Alexâ Antwort kam wie aus der Pistole geschossen. Dafür musste er wohl nicht lange nachdenken. Und sie trifft ins Schwarze.
»Meine Kinder«, sagt er, »waren so wütend auf dieses Teil. Zu Recht. Wenn die mal später eine Analyse machen, dann kommt meine Tochter wahrscheinlich
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