SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Welt, in der es noch um Tage und Stunden geht und nicht um Mikro- oder Nanosekunden. Im Aufzug treffe ich noch einmal Alan Matthews, den sympathischen Produktmanager, der mir das Reuters-Informationssystem so anschaulich erklärt hat. Wie er sich die Temposucht des Menschen erkläre, frage ich ihn.
Seine Antwort ist ebenso simpel wie beunruhigend: »Vielleicht ist der Mensch einfach so. Wir entwickeln diese Technologien, und dann wollen wir sie auch nutzen.«
Ich staune. So einfach ist das. Wir nutzen die Technologien, weil sie da sind. â Nur hat anscheinend niemand daran gedacht, Bremsen einzubauen.
Hartmut Rosa: Ich glaube, die gewaltigen Beschleunigungserfolge, die wir in der modernen Gesellschaft hatten, beruhten auch darauf, dass wir immer gute Bremsen hatten, die in vielen Bereichen langfristige Stabilität ermöglichten. Zum Beispiel bei der Gesetzgebung: Stabile, verlässliche Gesetze erlauben es Unternehmen überhaupt erst, langfristige Investitionen und Innovationen zu planen. Das gilt auch für den Einzelnen. Der wird erst kreativ, wenn er langfristige Entwicklungsmöglichkeiten und Perspektiven hat. Beschleunigungserfolge beruhen auf langfristigen Stabilitätsgarantien. Und die wiederum beruhen auf funktionierenden Bremsmechanismen.
Der Neoliberalismus der letzten Jahrzehnte hat diese Bremsen systematisch beseitigt â und damit jede Sicherheit. Die neoliberale Politik war von Anfang an darauf angelegt, Bremswirkungen im Kapitalverkehr, aber auch im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt zu beseitigen. Alles, was bremst, alles, was Flexibilität einschränkt oder eben Kapital-, Waren- und Investitionsströme verlangsamt, musste beseitigt werden. Damit hat man ein System erzeugt, das ohne jede Bremsen fuhr. Und da ist es wie beim Auto: Fährt man mit hoher Geschwindigkeit und ohne Bremsen, rast man früher oder später gegen die Wand.
Was ist da eigentlich passiert? Die Finanzmärkte und ihre Logik haben sich abgelöst von der realen Ãkonomie. Denn die lässt sich nicht beliebig beschleunigen. Denn man braucht, um etwas zu produzieren, um wirkliches Wachstum zu erzielen, Zeit. Man kann nicht beliebig schnell produzieren. Man braucht ja allein schon Zeit, um die Fabriken und Industrien zu errichten, in denen produziert werden soll. Und übrigens braucht man auch relativ stabile Verhältnisse. Man muss die Hoffnung haben dürfen, dass das Produkt, das man herstellen will, auch noch nachgefragt wird, wenn die Fabrik Jahre später fertig ist. Realwirtschaftliche Produktion ist also zeitaufwändig.
Und auch der Konsum ist zeitaufwändig. Denn man kann nicht beliebig schnell konsumieren. Egal was ich konsumieren will, wenn es real erzeugte Produkte sind, brauche ich dafür Zeit. Ich brauche Zeit, um ein Buch zu lesen, selbst wenn ich Experte im »Powerreading« bin. Ich brauche Zeit, um eine CD zu hören oder einen Film zu sehen. Das gilt besonders für komplexe Kulturgüter. Wenn Sie sich zum Beispiel einen Flügel kaufen. Wann haben Sie den »konsumiert«? Nicht wenn er im Wohnzimmer steht, sondern erst wenn Sie gelernt haben, ihn zu spielen. Und das ist sehr zeitaufwändig. Was sich beliebig beschleunigen lässt, ist der Kaufakt. Wir können ganz schnell Flügel, CDs und Bücher kaufen, und das tun wir ja auch. Statt dass wir Klavier spielen lernen am Sonntag, gehen wir lieber nochmal shoppen. Die Befriedigung hängt jetzt eigentlich am Kauf, nicht an der Konsumption. In unserer Hetze verwechseln wir diese beiden Dinge allzu gern.
Wie lässt sich das Beschleunigungsspiel trotzdem in Gang halten? Zum einen werfen wir die Güter fast immer weg, bevor sie eigentlich kaputt sind. Ehe sie physisch zerschlissen sind. Karl Marx hat das mal für die Produktion beschrieben und gesagt: Der moralische Verschleià ist höher als der physische VerschleiÃ. Er meint damit, dass Maschinen veralten und ausgetauscht werden, bevor sie physisch nicht mehr nutzbar sind. Nur weil sie zu langsam geworden sind. Und so ist es inzwischen auch bei Konsumgütern. Jeder von uns kennt das bei seinem Computer. Und auch bei der Mode sieht man das ganz deutlich: Jedes Jahr, manchmal jeden Monat und teilweise sogar jede Woche kommen neue Kollektionen auf den Markt, die uns dazu bringen sollen, ständig neue Produkte zu kaufen, obwohl die alten noch voll funktionsfähig sind, wir sie nicht verbraucht haben. Das ist die eine
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