SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
Vorschein. Denn ein schlechtes Gewissen oder Schuldgefühle plagen ihn deswegen heute nicht mehr, sagt er. Er habe sich ja streng genommen nichts zuschulden kommen lassen. Ich wundere mich ein bisschen über seine Einschätzung. Aber ich muss ja nicht alles verstehen.
Neben inhaltlichen Zweifeln an seinem Job kamen für Rudi auch immer deutlicher persönliche Gründe mit ins Spiel, die mir auch nicht ganz unbekannt vorkommen. Vor allem sein Umgang mit der Zeit habe ihn immer mehr beschäftigt, sagt Rudi. Fremdgesteuert sei er gewesen. Ausführender von Zeitplänen anderer. Er habe sich immer mehr gefühlt wie ein Sklave der Zeit und nicht wie der Gestalter der eigenen Zeit. Und je mehr er in die Zeit hineingepresst habe, desto mehr sei es ihm vorgekommen, als zerrinne sie ihm in den Fingern.
»Und als die Jahre dann so vorbeigetickert sind, dachte ich immer häufiger: âºMoment mal. Die Zeit rauscht vorbei, und was mache ich?â¹ Solange ich das Gefühl hatte, Zeit ist unendlich verfügbar, hatte ich auch kein Problem damit, alles auf später zu verschieben. Später im Leben. Aber das Jetzt, die Gegenwart, wird dadurch so unheimlich wertlos. Das habe ich ganz langsam begriffen, und das hat mich frustriert. Und natürlich war da auch das Gefühl, älter zu werden und nicht mehr so leistungsfähig zu sein wie ein DreiÃigjähriger.«
DrauÃen ist es inzwischen dunkel geworden. Es regnet wieder, und es ist kalt. Die Wanderer sind in ihrem Zimmer, und auch bei Rudi und mir macht sich Müdigkeit breit. Es ist eine ehrliche, gesunde Müdigkeit, wie man sie so wohl nur nach einem Tag an der frischen Luft, in den Bergen oder am Meer erfährt. So ganz anders als der Zustand, den Rudi beschreibt, wenn er von den letzten Jahren in seinem Job erzählt. Da hätten Begeisterung und der Adrenalinkick nach einem geglückten Deal rapide nachgelassen, und die negativen Seiten hätten sich immer stärker bemerkbar gemacht. Rudi zählt eine beeindruckende Latte an Krankheiten auf, die er in den letzten drei Jahren seines Berufslebens hatte. Es klingt wie die Krankheitsgeschichte eines alten, sehr gebrechlichen Mannes und will so gar nicht zu diesem kerngesunden Typen passen, den ich vor mir habe: »⦠einmal im Jahr eine Lungenentzündung, ständig irgendwelche Erkältungskrankheiten, Immunschwächen, Pfeifferâsches Drüsenfieber, Borreliose, alles Mögliche. Und psychisch gingâs mir auch dreckig. Ich bin oft grundlos aufgewacht, um 3.00 Uhr in der Nacht, zweihundert Puls, und hatte regelrecht Panikattacken. Dann habe ich mich angezogen und bin ums Haus gelaufen, eine halbe Stunde, um wieder runterzukommen. Was aber blieb, war ein Gefühl der Angst, so eine Hilflosigkeit, die kleinsten Dinge, die ich mir für den nächsten Tag vorgenommen hatte, einen Brief schreiben, tanken, Reifen wechseln, erschienen mir plötzlich wie riesige unlösbare Aufgaben. Und damit verbunden natürlich ein unglaublich schlechtes Körpergefühl, also das Gefühl, dass der Körper der Feind ist, weil er nicht mehr mitmacht mit dem, was man von ihm fordert. Auch die Wahrnehmung, die Sinne, sind abgestumpft. Ich kam mir manchmal vor, als würde ich hinter einer Milchglasscheibe sitzen, als wären meine Empfindungen abgestumpft. Und so hat sich das eigentlich in so ein Unwohlsein, eine Art Leidensdruck angestaut. Und irgendwann ist der so stark geworden, dass ich gesagt habe, jetzt muss ich raus.«
Es ist Mitternacht. Ich merke, wie mir, obwohl mir Rudi gerade von den schwierigsten Stunden seines alten Lebens erzählt, langsam die Augen zufallen. Wir sitzen noch ein paar Minuten wortlos vor dem Kamin, leeren unsere Gläser und verabreden uns für den nächsten Tag zu einer gemeinsamen Wanderung. Ich schlafe in dieser Nacht wie ein Baby.
Als ich am nächsten Morgen in den Gastraum komme, bedient Rudi bereits die beiden Wanderer und ein weiteres Pärchen, das von hier zu einer längeren Bergtour aufbrechen will. Es ist ein sonniger Tag. Während ich frühstücke, füllt sich die Gästeterrasse, sodass Rudi nicht sofort mit mir losmarschieren kann. Er muss dem Wirtspaar noch helfen. Von der Bank vor dem Gemsli beobachte ich ihn, wie er die Rivella-Sonnenschirme aufspannt, die Tische abwischt, Aschenbecher daraufstellt und Stühle zurechtrückt. Immer wenn er zwischendurch Zeit hat, setzt er sich kurz zu mir. So
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