SPEED - Auf Der Suche Nach Der Verlorenen Zeit
erfahre ich häppchenweise vom dramatischen Wendepunkt in Rudis Leben.
»Der Prozess, der zu einer Kündigung führt, ist ja ein sehr langer und quälender. Paradoxerweise hatte ich existenzielle Ãngste. âºWenn ich morgen kündige und keinen Job mehr habe, lande ich unter der Brückeâ¹, habe ich gedacht. Völlig idiotisch. Ich habe ja ein paar Jahre nicht schlecht verdient und war abgesichert.«
Das glaube ich sofort und frage mich, was er wohl so verdient hat im Jahr.
Rudi war zwar höchst unzufrieden, aber er brauchte noch einen Ruck, etwas, was ihn motivierte. Bei einem Wellness-Wochenende mit seiner damaligen Freundin in den Maritim-Alpen in der Nähe von Nizza kam ihm dann die zündende Idee, die sein Leben völlig umgekrempelt hat.
»Wir haben zu Mittag gegessen und sind dann ein bisschen spazieren gegangen. Und plötzlich hatte ich es fast bildlich vor Augen: Genau hier will ich eines Tages mit meinem Rucksack ankommen und runter zum Meer laufen, nachdem ich die Alpen durchquert habe! Da war Idee geboren: Ich wollte die Alpen durchqueren.«
Und so habe er sich im letzten Jahr seines Jobs täglich eine halbe Stunde damit beschäftigt, Landkarten studiert, einen Plan für die Reise entwickelt, Etappe für Etappe. »Ein bisschen bankermäÃig« sei er schon an dieses Vorhaben herangegangen, erinnert sich Rudi heute. Aber so hat sich langsam ein Gegengewicht entwickelt, ein Bild von dem, was er statt seines Jobs tun will.
»Das war sozusagen der Anker, an dem ich mich dann da rausziehen konnte. Ich habe die ganze Reise über Monate minuziös geplant, am Ende wusste ich sogar, dass der Hüttenwart bei Etappe siebzehn âºToniâ¹ heiÃt und sein Schweinebraten sieben Euro kostet. Was soll ich sagen? Da konnte ich nicht aus meiner Haut.«
Eine Vision, einen Alternativplan ⦠Das leuchtet mir ein. Die braucht es wohl tatsächlich, um aus dem alten Leben aussteigen zu können. Während ich über seine Aussteigerstrategie nachdenke, muss Rudi wieder ran. Er holt Getränkekisten aus dem Schuppen und sortiert sie in die Regale der Vorratskammer neben der Küche des Gemsli. Oben Rivella rot, darunter Rivella blau, dann Cola, darunter das Bier Marke Calanda Bräu und so weiter. Rudi scheint diese eintönige Arbeit richtig Spaà zu machen. Er wirkt ziemlich zufrieden.
Eine Stunde später, nachdem der erste Ansturm von Frühlingsgästen inzwischen das Mittagessen vor sich auf dem Tisch hat und Rudi abkömmlich zu sein scheint, können wir doch noch los. Rudi und ich brechen zu unserer kleinen Wanderung auf. Während ich neben ihm herlaufe, frage ich ihn, wie er letztlich den Absprung geschafft hat und ob es ihm schwergefallen sei.
Ein bisschen nervös sei er schon nach London geflogen, nervöser als sonst, erinnert sich Rudi. Aber er hatte das Kündigungsschreiben ja schon vorbereitet und auch engen Freunden und der Familie von seinem Vorhaben erzählt. Um sicher zu sein, dass er auch nicht rückfällig würde. Gleichzeitig sei er, so paradox das klinge, aber auch relativ entspannt gewesen, »weil der Druck, der sonst von diesen Montagsmeetings ausging, weg war, weil ich schon das Gefühl hatte, ich bin drauÃen. Ich hatte zwar kalte Handflächen, bevor ich wirklich zum Chef reingegangen bin, aber als das Schreiben auf seinem Tisch lag, gab es ja kein Zurück mehr.« Es sei auch seinem Chef relativ schnell klar gewesen, dass er es ernst meinte und nicht nur um einen besseren Vertrag verhandeln wollte, erzählt Rudi. »Und dann bin ich völlig entspannt durch die Bürotür spaziert. Und mit der Kündigung kam eine unheimliche Erleichterung.«
So leicht soll das gehen? Zwanzig Jahre seines Lebens hin ter sich zu lassen? Wir laufen über eine kleine Holzbrücke, die über einen reiÃenden Gebirgsbach führt. Unter uns stürzt das Schmelzwasser des Frühlings in die Tiefe. Um diese Zeit des Jahres erwacht auf dieser Höhe die Natur aus ihrem Winterschlaf. Ãberall am Wegesrand blühen Blumen. Leider habe ich den überwiegenden Teil meiner letzten knapp zwanzig Lebensjahre in GroÃstädten verbracht, sodass ich keine Ahnung habe, was für Blumen es sind. Dafür weià es Rudi, der Exbanker, was mich ein bisschen verlegen macht: Es sind Alpenrosen und Enziane. Ich spüre, wie mich die Natur, das gewaltige Bergpanorama um mich herum, beruhigt.
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