Speichelfaeden in der Buttermilch
schlachten. Anschließend liest er laut die lächerlichen Texte diverser Pornogazetten. Sein Lieblingsheft heißt Möpse . Er kauft es unverhohlen an dem Zeitungskiosk, wo ich mir täglich meine Süddeutsche Zeitung und den Pfeifentabak kaufe. »Einmal Möpse «, brüllt er betrunken, an seinen unrasierten Wangen kleben Federn und Blut. Ich selbst arbeite mit Castorf an meiner Brecht-Interpretation, die in vier Wochen an der Volksbühne eine – toi toi toi – wunderbare Premiere feiern wird.
Grissemann widert mich an. Er hat sich bei einem offensichtlich Drogenabhängigen namens Charlie in einem sogenannten Studio Frauenbrüste auf den Bauch tätowieren lassen. Wenn andere dabei sind, fasst er sich ständig auf den Bauch und lacht dreckig dazu. Ich komme aus dem Erröten gar nicht mehr raus. In meinem gemütlichen Zeitungskiosk, wo ich bei meinem Freund Alexander täglich Fachzeitungen und französische Zigaretten kaufe, hat Grissemann gestern sein Wasser nicht mehr halten können. Selbstverständlich habe ich dafür gesorgt, dass Alexanders Hose in die Reinigung kommt. Ich selbst habe mit dem Berliner Senat vereinbart, das Heim für Asylantenkinder der dritten Generationen am 16. im feierlichen Rahmen zu eröffnen. Zu diesem Anlass muss unbedingt mein Sonett fertig werden. Arbeit ruft.
Berlin, 19.12.97, Hotel Taunus
Hat das alles nie ein Ende? Der freundliche, gebildete Hoteldirektor bat mich in sein Büro, um mir, während sein Blick ständig peinlich berührt auf den Boden gerichtet war, mitzuteilen, dass Stermann heute früh laut schnarchend nackt auf dem hoteleigenen Parkplatz gefunden wurde. In seinem Mund steckte ein Herrenmagazin mit dem Titel Megamöpse . Unter ihm befand sich eine Jauche aus Blut, Bier und Hühnerresten. Stermann liegt im Krankenhaus, und sein Zimmer 106 lasse ich auf meine Kosten erneut desinfizieren. Ich selbst bin sehr zufrieden mit meinem Interview, das ich Theater Heute gab, wo ich mich vehement für werkgetreue Inszenierungen des deutschen Sprechtheaters einsetzte. Außerdem wollten mir gestern nacht einige hervorragende Verse gelingen in meiner Lieblingsdiszplin British poetry – in sooth I do not know, why I am so glad – ach ja, die Zeilen geben mir Kraft, ruhig zu sein.
Muss Grissemanns Eltern informieren. Seit gestern Abend sitzt dieser arme Mensch, diese verlorene Seele, in der Strafanstalt Moabit. Zu recht, wie ich finde, ist er doch gestern betrunken durch das Glasdach der Galerie »Feinstein« gefallen, wo gerade meine Vernissage »Poesie am Wegesrand – Bilder in Moll« eröffnet wurde. Dieses – entschuldigen Sie den infamen Ausdruck –dieses Schwein Grissemann, beschmutzte nach seiner lautstarken Landung eines meiner Werke und diverse Hosen meiner Künstlerfreunde. Außerdem »pinkelte« er in die Mirabellenbowle, die meine Freundin, die Kunstsenatorin, kunstvoll angerichtet hatte. Ein Schwarm von Fliegen umgab sein Haupt, und er begann, alle Damen im Raum unsittlich zu berühren. Ich rief die Polizei und ließ ihn abführen. Stunden der Scham folgten. Ich selbst fand nach seiner Verhaftung endlich wieder Muße und die notwendige innere Ausgeglichenheit, mich ganz dem Klang des Windes hinzugeben.
Teil 2
Berlin, Hotel Taunus, 4.1.98
Das Fass ist voll. Stermann hat alles Menschliche verloren. Heute Morgen saß er nackt auf dem Brandenburger Tor und fraß wie ein alptraumhaftes Monster Berge von Kröten und Tauben. Dann fiel er im Delirium hinunter und blieb kurze Zeit besinnungslos liegen, um wenig später blutverschmiert in einem Waldstück zu verschwinden. Mein Gott, wie soll ich das meiner französischen Lektorin Françoise de Berceau erklären, die mein Werk »Urbane Eleganz im Berlin des ausgehenden Jahrtausends« veröffentlichen will? Habe gerade erfahren, liebes Tagebuch, dass Stermann von Tierärzten eine Betäubungsspritze bekommen hat und in der Tierklinik Potsdam liegt. Ich werde ihn wohl oder übel in den nächsten Tagen abholen müssen. Ich selbst verfasse wieder satirische Lieder im Hexameter, und ich zaudere tagein, tagaus, ob ich mich bereit fühle, den frühen Rilke ein zweites Mal zu entdecken.
Liebes Tagebuch, nie schrieb ich Dir erzürnter als nun! Heute Morgen, als ich vor dem Brandenburger Tor durch den UNICEF -Botschafter Dr. Nbong Ndiwabdua die goldene Humanitas-Medaille überreicht bekam und gerade in der Mitte meiner als bemerkenswert empfundenen und dankbar aufgenommenen Rede angekommen war, hörte ich von weitem schon das
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