Speichelfaeden in der Buttermilch
nachdenken. Das macht 6859 Stunden. Also hat er es wieder nicht geschafft, zu den 20 Mitarbeitern des Jahres zu gehören. Dafür braucht man mindestens 8500 Stunden. Ein Jahr hat 8760 Stunden. Also darf man pro Jahr höchstens 260 Stunden Pause machen. Schindler hat schwarze Augenringe, die bis zu den Brustwarzen reichen, und Tränensäcke, die den Boden berühren. Er ist 19 und hat den Gang eines Mannes aus dem 19. Jahrhundert. Er arbeitet erst seit drei Jahren bei FM4 . Wie schnell man doch einen Mann brechen kann.
4.12.
Liebes Tagebuch: »Welche guten Vorsätze habt Ihr für das nächste Jahr?« So steht es auf einem FM4- Rundschreiben. Es gibt drei Antworten zur Auswahl, von denen man zwei ankreuzen soll: a) weniger Freizeit, b) weniger Mitbestimmung, oder c) mehr Respekt vor Autoritäten. Mathias Zsutty schrieb unter seinen Fragebogen »Liebe und Geborgenheit«. Ich will nicht wissen, was dieses freche Verhalten für Konsequenzen nach sich ziehen wird. Auch Wortchef Pieper schoss deutlich übers Ziel hinaus. Er schrieb auf den Fragebogen: a) und b) kann ich nicht ankreuzen, weil das nicht möglich ist. Weniger Freizeit und weniger Mitbestimmung gibt es auf dieser Welt nicht. Deshalb kreuze ich nur c) an: mehr Respekt vor Autoritäten. Ich schätze mal, dass ihm der Tag Jahresurlaub gestrichen wird, womit sich dann auch seine Anmerkung auf jeden Fall bewahrheiten dürfte.
Liebes Tagebuch, es war bestürzend mitanzusehen, wie Kollege Freeman auf den Tisch stieg und eine Rede hielt. »I have a dream«, sagte der 74jährige Kollege. »I have a dream. Ich träume von einer Welt, in der Redakteure ihre Chefs angstfrei ansprechen können. In der Redakteure schlafen dürfen, wenn sie müde sind. In der ein Redakteur in seinem Arbeitsleben wenigstens einmal gelobt wird. I have a dream. Ich träume von Kantinen, in denen man angstfrei alles essen kann, von Radioanalysen, vor denen man sich nicht fürchten muss. Von professionellem Radio. Kurz, ich träume davon, den Sender zu wechseln.« Man hörte nach dieser Rede nur einen klatschen, nämlich Chefcontroller Blumenau, dem beim Klatschen die Wangen von Freeman zwischen die Hände gerieten.
5.12.
Liebes Tagebuch, alle bei FM4 sind völlig erschöpft. Um die Lautstärkeregler am Mischpult zu schonen, müssen wir Moderatoren seit Tagen brüllen. Chefcontroller Blumenau hat gehört, dass man Kosten sparen kann, wenn man das Mikrofon auf »leise« stellt. Damit die Hörer uns dennoch hören können, müssen wir fünfmal so laut sprechen wie normalerweise. Um das zu üben, hat Chefkoordinator Blumenau ein Trainingsprogramm zusammengestellt, das unsere Stimmbänder stärkt. Er legt uns 40-Kilogramm-Gewichte auf den Hals, die wir mittels unserer Stimmbänder in die Höhe stoßen müssen. Wir müssen dabei Halsschienen tragen, damit die Stimmbänder nicht aus ihrer Verankerung reißen. Das Haustelefon wurde abgeschafft, so dass wir uns im gesamten Funkhaus schreiend miteinander verständigen müssen.
Liebes Tagebuch, bei jeder Sendung kommt inzwischen eine Polizeistreife, um uns wegen Ruhestörung anzuzeigen. Trotz schallisoliertem Studio reden wir so laut, dass nicht nur Anzeigen aus dem 4. Bezirk kommen, sondern auch aus Bezirken von der anderen Donauseite. Eine Funkstreife kam aus Wiener Neustadt, weil sich dort jemand von dem Geschrei belästigt fühlte. Wir habe alle inzwischen so dicke Hälse, dass wir zwei Meter lange Schals brauchen, um den Hals wenigstens zur Hälfte zu bedecken.
6.12.
Liebes Tagebuch, FM4 ist eine Mischung aus Altersbosheit und Kindergarten. In dieser Welt prallen Pubertät und Greisentum aufeinander. Die einen können nicht mehr, die anderen noch nicht. Das ist mir wieder einmal klar geworden, als Duncan Larkin und Praktikant Albert gemeinsam eine Sendung vorbereiten wollten. Duncan kann wegen des grauen Stars nicht mehr lesen, Albert kann noch nicht lesen, weil er, wie so viele andere, für FM4 viel zu früh die Schule verlassen hat. Ich glaube, er war sieben, als er zu uns kam. Tauchte er nicht sogar genau an Duncans 75. Geburtstag auf? Jedenfalls ist ihrer beider Leseschwäche der Grund dafür, dass in der »Morning Show« nie etwas Aktuelles thematisiert wird. Sie können schlicht und ergreifend die Zeitungen nicht lesen, die Wortchef Pieper ihnen jeden Morgen um halb fünf ins Studio knallt. Duncan und Albert werfen sich dieses Grundproblem lautstark gegenseitig vor. Jedesmal, während eine Platte läuft, schreien und pöbeln sie sich
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