Speichelfaeden in der Buttermilch
liebes Tagebuch, herrlich kuschelig zu.
15.6.
Liebes Tagebuch, bestimmt glauben viele Menschen draußen, dass die Arbeit beim Radio interessant ist. Nun, ich hab mal als Schüler bei der Post gearbeitet, dort habe ich acht Stunden lang das Stempelkissen gehalten – das war spannender. Beim Zivildienst hab ich mal eine Woche lang ein Telefon putzen müssen, auch das war abwechslungsreicher. Ganz ehrlich: Nichts ist langweiliger, als beim Radio zu arbeiten. Ich beneide jeden, der Lack beim Trocknen zuschauen darf, alles aufregender. Die Wahrheit sieht nämlich so aus: Unser Büroalltag besteht darin, dass alle Kollegen, die gerade nicht auf Sendung sind, nämlich 99% aller Mitarbeiter, vor dem Radio sitzen und FM4 hören müssen. Sonst gibt's ja nichts zu tun. Wir haben EIN Radio, das heißt, alle sitzen unfassbar beengt um das eine Gerät herum, mit halb geschlossenen Augen, leise Schnarchgeräusche kommen aus dem einen oder anderen Kollegen. Alle paar Stunden stehen zwei, drei auf und trotten missgelaunt ins Studio, und zwei, drei andere kommen mit leerem Blick aus dem Studio raus. So geht das den ganzen Tag, die ganze Woche, das ganze Jahr. FM4 heißt: Fadesse multipliziert mit 4.
Liebes Tagebuch, habe aus Versehen vor lauter Langeweile Grissemann in der Nase gebohrt. Und beim Gähnen einen Krampf im Kiefer bekommen, so dass ich meinen Mund nicht mehr schließen kann. Der unsympathische Chefcontroller Blumenau nutzt diesen Fauxpas ständig aus und wirft mir Papierkügelchen in den wehrlosen Schlund. Grissemann schlägt immer und immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand, und Mathias Zsutty summt leise vor sich hin, immer die gleiche Melodie: »Football's Coming Home.« Seit sechs Stunden. Elisabeth Scharang starrt Löcher in die Decke, aber wirklich. Die Decke ist bereits übersät mit kleinen Löchern. Ich verstehe das nicht – würde es nicht reichen, wenn wir alle rechtzeitig zu unseren Sendungen kämen? Müssen wir wirklich acht Stunden lang Däumchen drehen? Hab mir meine übrigens gerade beim Drehen gebrochen. Typisch.
16.6.
Liebes Tagebuch, um die langweilige Arbeit bei FM4 irgendwie zu überstehen, kommen die Kolleginnen und Kollegen auf immer abstrusere Ideen. Albert Farkas hat das Grazer Telefonbuch rückwärts auswendig gelernt, also Namen und Telefonnummern rückwärts. Stermann, dieser schwere Raucher, versucht seit Wochen aus Asche wieder Zigaretten herzustellen. Re-Recycling. Ähnliches versucht die Ökologin Jill Zobel, sie will aus Papier Bäume machen. Ich selber forme aus Spucke das grobschlächtige Gesicht von Chefcontroller Blumenau. Leider verläuft die Spucke zu sehr, als dass ich ganz genau arbeiten könnte. Obwohl mein Porträt ihm trotzdem schmeichelt. Es macht ihn irgendwie … menschlich.
Liebes Tagebuch, neben unserem Fenster ist die Wiese vom Theresanium, auf der blonde, reiche, glückliche Kinder Ball spielen und mit Bändern im Haar tanzen, während ihnen Geldscheine aus den schönen Hosentaschen fallen. Dieser Anblick ist für uns Radiohandwerker immer ein Schlag ins Gesicht. Vor allem ist es ärgerlich, weil Claudia Czesch dadurch das Zählen der Grashalme erschwert wird. Seit 1998 zählt sie verbissen jeden einzelnen Grashalm auf der riesigen Wiese des Theresaniums. Über 1,457 Milliarden hat sie bisher gezählt. Je wärmer es wird, umso apathischer werden die Kollegen und ihre Beschäftigungen. Magister Edlinger sitzt seit sieben Stunden mit geschlossenen Augen auf seinem Bürostuhl und zählt, wie oft er atmet. Clemens Haipl grinst ein fiktives Gegenüber an, Hermes taucht seinen Kopf immer und immer wieder in ein Fass mit Gel. Und wenn er auftaucht, sagt er, dass der Anblick im Fass erfreulicher sei als der Anblick von uns FM4- Mitarbeitern. Das spricht Bände und entspricht wahrscheinlich der Wahrheit.
17.6.
Liebes Tagebuch, die größte Demütigung für Journalisten wie uns ist es, auf Rockfestivals geschickt zu werden, um von dort live zu berichten. Wiesen, Frequency, Aerodrome, Southside und wie sie alle heißen, diese Orte des Schreckens. Wenn ausgebildete, ernsthafte, fast 50jährige Topjournalisten im Gatsch sitzen müssen, in stinkenden Plastikzelten schlafen und von Interviewpartnern angerülpst und mit Bier beschüttet werden. Dantes Hölle ist ein Picknick gegen Musikfestivals. Wieviele Kollegen wurden schon in den Menschenmassen zerdrückt, wieviele leiden seit Festivaleinsätzen an Traumata? Wie schön wäre es, wenn wir ein Literatursender wären und
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