Speichelfaeden in der Buttermilch
nur einmal im Jahr live vom Ingeborg-Bachmann-Preis berichten müssten, wo es schön gesittet zugeht und alle Zuhörer brav auf Ihren Stühlen sitzen?
Liebes Tagebuch, schneide noch immer an meinem Beitrag über den Ingeborg-Bachmann-Preis. Leider haben meine Interviewgäste alle so viel zu sagen gehabt, dass ich fast 19.000 Stunden Interviews aufgenommen habe. Ich habe ausgerechnet, dass mein Beitrag, wenn ich ernsthaft dran arbeite, erst im Jahr 2008 auf Sendung gehen kann. Mein alter Fehler, Interviewte aus Höflichkeit nicht zu unterbrechen, hat sich wieder mal bitter gerächt. Ich sehne mich zurück zum letzten Rock-am-Ring-Festival, wo ich Interviews geführt habe, die in der Regel aus einem oder zwei Worten bestanden. Die häufigste Interviewantwort bei Musikfestivals lautet »Was? Ich versteh nichts!« oder »Geil«. Da tut man sich als Beitragsgestalter leicht. Aber versuch mal, liebes Tagebuch, von Iris Radisch weniger als 60minütige Antworten zu bekommen. Am liebsten habe ich persönlich ja inzwischen Interviewtermine mit Madonna oder Michael Jackson. Weil sie nicht zustande kommen. Herrlich – weniger Arbeit kann es nicht geben! Ich schlage auf der nächsten Redaktionssitzung ein Interview mit Saddam Hussein vor, dann kann ich jetzt schon meine Sachen fürs Schwimmbad packen.
18.6.
Liebes Tagebuch, zu den schlimmsten Geißeln des 21. Jahrhunderts gehören in zivilisierten Ländern sicher Haltungsschäden aufgrund mangelnder Bewegung und falschen Sitzens. FM4 scheint mir da so etwas wie ein warnendes Beispiel zu sein. Orthopädisch betrachtet sind wir die Vierte Welt, ein einziges Bandscheibenwaterloo. Unter anderem wahrscheinlich auch deshalb, weil wir auf zerbombten Stühlen aus dem Zweiten Weltkrieg sitzen müssen, die nicht gerade wirbelsäulenfreundlich sind. Kollege Stermann kriecht seit Wochen mit schmerzverzerrtem Gesicht auf allen Vieren durch die Redaktion, Chefcontroller Blumenau geht so gebückt, dass er mit der Nase über den Boden schleift, Stuart Freeman ist so verwachsen, dass er seinen Oberkörper ganz weit nach rechts beugt, so dass er mit dem rechten Ohr den Boden berührt, selbst beim Sitzen. Mathias Zsutty hat weder Muskeln noch Wirbel und rollt quallengleich über den Teppich. Gerald Votava zieht ein Muskelschwundbein nach, Clemens Haipl kann nur hocken und so vorwärtsrutschen. Ich kann nicht mal mehr sagen, ob die lieben Kolleginnen und Kollegen schon bei Diensteintritt alle einen Buckel hatten oder ob die Buckel erst hier gewachsen sind. Auf jeden Fall sieht es in der Redaktion aus wie bei einem Casting für den Glöckner von Notre Dame.
Liebes Tagebuch, eine Osteopathin war in der Redaktion und hat nach einer kurzen Untersuchung vorgeschlagen, dass man uns allen sämtliche Knochen und Wirbel brechen müsse, um sie ganz neu zusammenzusetzen. Schon die leichteste Form von Gymnastik könnte zu einem Zusammensturz aller FM4- Knochengerüste führen. Ja, jetzt rächt es sich, dass wir in all den Jahren nur unseren Geist, nicht aber den Körper trainiert haben. Die Ö3 -Kollegen übrigens haben 1A Körper und Muskelmassen, mächtig wie die Alpen. Na ja, jeder muss wissen, was ihm wichtig ist. Ich habe jedenfalls auch meinen Stolz, wenn ich neben einem Ö3 -Kollegen in den Aufzug krieche und alle meine morschen Knochen beängstigende Geräusche machen. Wenn mich dann die starken Kollegen fragen, in welchen Stock ich muss, sage ich: »Den vierten« und füge sicherheitshalber hinzu: »Das ist der oberste Knopf«. So etwas lernt man ja nicht im Fitnessstudio.
19.6.
Liebes Tagebuch, wir Redakteure mussten uns heute im fünf Quadratmeter großen Sitzungssaal eine Pilotsendung anhören, von der Chefcontroller Blumenau ganz begeistert ist. Ein zweistündiger Gebärdensprachkurs, ohne Musik. Zwei Stunden lang hört man, wie der Gebärdensprachkursleiter Wörter an die Tafel schreibt, um sie dann in Gebärdensprache vorzuzeigen. Auf unsere leise Kritik hin, dass das für's Radio vielleicht nicht so wahnsinnig geeignet sei, hagelte es von Blumenau ein Ohrfeigengewitter. Auch unsere zweite Kritik wurde abgeschmettert. Der Gebärdensprachkursleiter ist nämlich Blumenau selbst, der nicht einmal in Ansätzen mit Gebärden sprechen kann, bis auf die Ohrfeigen vielleicht. Er rechtfertigte sich damit, dass es völlig egal sei, dass er die Gebärdensprache nicht beherrscht, weil man es im Radio ja nicht sehen kann. Innovation schön und gut, aber das hat doch mit Radiomachen nichts mehr zu
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