Spiegel der Offenbarung
eine weitere Gegenfrage. Sie wusste, dass sie keine Antwort erhalten würde. Nidi hatte es ihr gesagt: Sie musste es selbst herausfinden, niemand würde es wagen, es ihr zu verraten. Nur sie selbst – oder Königin Anne könne sie aufklären.
Und außerdem war die Frage überflüssig. Natürlich war sie »der Pfad«, schließlich war sie ausgeschickt worden, die Herrscher zu finden und zu befreien. Was sollte sich daran geändert haben? Vielmehr konnte sie froh sein, solch tatkräftige Unterstützung zu erhalten und nicht alles allein machen zu müssen.
»Verzeih«, sagte sie also. »Ja. Ich bin der Pfad, nur leider weiß ich nicht, wo ich mich auslegen soll, damit wir darauf entlangschreiten können. Oder die Herrscher heraus.« Auf dem roten Laura-Teppich zur Oscarverleihung. Aber keine Fotos und bitte keine Stilettos auf mir.
»Wir werden es herausfinden.« Josce klang zuversichtlich.
Sie hatten den Palast schon einmal visualisiert, ein schemenhaftes Bild, geformt aus Rauch und Feuer. Und sie wussten, dass er in der Nähe von Morgenröte liegen musste. Aber Laura war mit der Cyria Rani und dem Titanendactylen schon so oft darüber hinweggeflogen, sie hatte nie ein zweites Bauwerk gesehen.
»Der Priesterkönig selbst hat den Palast verschwinden lassen«, erklang Hanins Geisterstimme. »Ich weiß nicht, aus welchem Grund, aber er war wohl einzig ihm zugänglich. Mein Meister hat nur deswegen Kenntnis davon, weil er damals schon da gewesen ist und nahezu alle Geheimnisse Innistìrs kennt. Der Olymp ist ein exponierter Ort mit vielen Strömungen.«
»Also, Laura.« Venorim schubste die junge Frau mit ihren knochigen Spinnenhänden vor sich. »Konzentriere dich, wir werden dich stärken.«
Laura gehorchte. Sie starrte rechts an Morgenröte vorbei, weil sie das Gefühl hatte, dort suchen zu müssen.
»Auf dieser Ebene kann er sich normalerweise nicht verborgen halten«, sagte Hanin verwundert. »Was machen wir falsch?«
»Kannst du etwas erkennen, Laura?«, fragte Josce.
»Nein. Tut mir leid.« Laura musste sich nicht umdrehen, um die Enttäuschung in den Gesichtern der Frauen zu sehen. Sie mussten sie ja jetzt unweigerlich für eine Versagerin halten. Doch sosehr sie sich anstrengte, sie entdeckte nichts. Zwang sie es zu sehr herbei? Konnte sie ihre Menschlichkeit nicht ausreichend abschalten?
»Lasst sie in Ruhe suchen. Helft ihr, sich zu entspannen. Wir dürfen nichts von ihr erwarten.« Venorims Stimme beruhigte alle. Auch Laura. Sie spürte, wie etwas von den Frauen hinter ihr in sie einströmte. Sie ließ sich hineinsinken, schaltete alle Gedanken aus, ließ alles einfach geschehen ...
Und dann sah sie etwas, flimmernd wie eine Luftspiegelung in der Wüstenhitze, wallend und diffus, aber es war da .
Wortlos streckte sie den Arm aus und deutete in die Richtung. Tatsächlich rechts neben dem Palast. Die schemenhaften Konturen einer weiteren Mauer und einem Gebäude dahinter mit einem Turm. Und da war noch etwas. Ein Hügel ... mit einem grell strahlenden Leuchten auf seiner Spitze. Als Laura den Blick dorthin richtete, traf es sie wie ein Blitzschlag.
»Mit Verlaub, Käpt'n, aber das kapier ich nicht«, polterte der Steuermann los, während er übers Deck auf den Korsaren zustapfte, der an der Reling stand und durch sein Fernrohr blickte.
»Mit Verlaub, Steuermann, deswegen bist du der Steuermann und ich der Kapitän«, gab Arun leichthin zurück, ohne den Blick von dem Glas zu nehmen.
»Ich dachte, der Kampf beginnt?«
»Das tut er.«
»Ich dachte, wir unterstützen Veda?«
»Die kommt schon zurecht. Der Weg ist klar.«
»Und ... was tun wir?«
»Schauen und warten.«
Arun schob das Glas zusammen, rieb sich sinnierend den Bart und ging dann einige Schritte weiter, sprang auf das Achterdeck, zog das Fernrohr wieder aus und setzte es erneut ans Auge. Was immer er suchte, es war nicht ersichtlich. Der düstere Himmel war leer. Zwei oder drei Flugtage in Flugrichtung entfernt lag der Vulkan. Arun blickte aber genau in die entgegengesetzte Richtung wie schon zuvor.
Der Steuermann war so erzürnt, dass seine sonst grauen Haare tiefrot wurden und sein Gesicht sich zu etwas veränderte, was man nur dämonisch nennen konnte. Zum ersten Mal nach all den Jahren zweifelte er an seinem Herrn. Arun hatte schon viele merkwürdige Dinge getan, doch seit sie in Innistìr waren, war nichts mehr so wie früher. Der Kapitän hatte sich stark verändert, und der Steuermann fragte sich, woran das liegen
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