Spiegelblut
Worten erklärte er mir die neuen Regeln, entließ mich aber nicht aus seiner Obhut. Dann war er gegangen und hatte mir die ganze Nacht freigegeben.
Ich fand ihn in einem komplett abgedunkelten Zimmer am Ende des kleinen Korridors. Der Lichtwechsel war im Kommen, sein Körper schon dem Schmerz unterworfen. Auf Zehenspitzen schlich ich mich zu ihm. So wie letztes Mal war er auf allen vieren, kämpfte fast lautlos gegen die Qual, es war schrecklicher, als wenn er geschrien hätte. Das Geräusch seiner Klauen, die über den Boden kratzten, jagte eine Gänsehaut über meinen Rücken. Lange Risse zogen sich kreuz und quer durch das Holz. An etlichen Stellen sah man den blanken Stein des Gemäuers darunter, so tief waren die Kerben, die er über Jahrzehnte oder Jahrhunderte hinweg gegraben hatte.
Ich setzte mich stumm neben ihn, berührte ihn nicht, sondern reflektierte nur wie das Mal zuvor Remos Seelenhälfte, so gut ich konnte. Diesmal gelang es mir sogar, die Bilder zurückzudrängen. Ich spürte sofort, wie er sich etwas entspannte, ruhiger wurde, seine Finger entkrampften sich.
Es dauerte länger, als ich erwartet hatte. So lange wie ein Sonnenaufgang. Als ich mir vorstellte, wie viele Jahre er sich schon einsam durch Morgengrauen und Abenddämmerung quälte, brannten Tränen in meinen Augen.
Als es vorbei war, versuchte er, sich in seiner üblichen Gelassenheit aufzusetzen, aber ich sah, wie schwer es ihm fiel. Er lehnte sich an die Wand. Ich rutschte einfach neben ihn und legte den Kopf an seine Schulter. Er trug nichts außer seiner dunklen Hose. Seine Haut war kühl an meiner Wange und erinnerte mich an die Nacht, in der ich mit dem Kopf auf seiner kalten Hand eingeschlafen war.
»Du bist das unartigste Obhutmädchen, das ich kenne«, flüsterte er mir zu. »Aber ich danke dir. Was immer du da machst, es hilft.«
»Damontez?«
»Hm?« Er hörte sich erschöpft an.
»Wenn wir alleine sind – was ist mit den Regeln? Ich habe so viele Fragen.«
»Du brichst doch sowieso alle Regeln, Coco-Marie. Frag mich, was du wissen willst.«
»Wirklich?« Ich dachte an Dorian, beschloss aber, nicht sofort mit der heikelsten Frage anzufangen. Ich hatte noch gut in Erinnerung, wie er auf Shannys Worte reagiert hatte. »Erzähle mir von Remo. Was ist er für dich? Wie ist es, wenn man weiß, dass ein anderer einen Teil von einem selbst besitzt?«
»Ich kenne es nicht anders. Als ich Remo zum ersten Mal begegnet bin, war ich noch sehr jung. Ich erinnere mich daran, wie glücklich ich war. Ich fühlte mich vollständig. Er war mir fremd und vertraut. Er war der Erste, den ich gern hatte. Eine halbe Seele kann kaum etwas empfinden, zumindest keine guten, tiefen Gefühle. Das liegt an dem Fluch, dass wir die Zerrissenheit am eigenen Leib spüren sollen. Doch bei Remo war es anders.«
»Und schlechte Gefühle wie Zorn, Hass, Neid – das geht?«, hakte ich nach.
Er nickte. »Aber auch Begehren und Lust.«
Ich sah ihn von der Seite an. Das schwache Licht, das von draußen hereinfiel, zeichnete sein Profil gestochen scharf in die Dunkelheit. Er warf mir einen kurzen Blick zu und mir fielen die 499 Arten des Liebens ein, die er sicher alle kannte. Es faszinierte mich ebenso, wie es mir Angst machte.
»Es ist leichter, es verlangt weniger. Und da wir nichts anderes empfinden konnten, ist Remo voll und ganz in diesen Gefühlen aufgegangen. Es hat nicht lange gedauert, bis er anfing, langsam und grausam zu töten. Da war er gerade mal neunzehn Jahre alt.«
»Und dich haben sie bestraft?«
»Der große Edoardo wollte es nicht wahrhaben, dass sein Sohn zu dem verkam, was er selbst bekämpfte und hasste. Remo musste mir noch nicht einmal die Schuld zuweisen. Man nahm ganz allgemein an, dass nur ich der Schuldige sein konnte. Da war dieses Mädchen …«
Melina , hätte ich beinahe nachgehakt, bremste mich aber in letzter Sekunde.
»Melina. Sie war die Erste, die er auf brutalste Weise tötete. Und das nur, weil ich sie so sehr begehrte. Mein Begehren wurde seins. Ich wollte ihr Blut, vielleicht auch sie, doch ich hielt mich zurück. Remo gelang das nicht. Die Vorfälle häuften sich. Irgendwann war offensichtlich, dass nur Remo oder ich schuldig sein konnten. Immer wieder beteuerte ich meine Unschuld, aber sie bestraften mich trotzdem.«
»Mit Licht?«, flüsterte ich.
»Edoardo wollte unbedingt mein Geständnis. Als die üblichen Traditionen keinen Erfolg brachten, haben sie mit den Diamantgeißeln weitergemacht.«
Er war
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