Spiegelblut
Luft mehr bekam. Ich fragte sie nicht nach dem Hintergrund dieser Geschichte, sondern erzählte ihr alles, was sich bei Faylin ereignet hatte.
»Dann bist du wirklich ein Spiegelblut?« Sie schüttelte den Kopf und die langen Zöpfe flogen um ihr schmales Gesicht. »Eine Macht jenseits aller Vernunft und Worte, eine Macht, älter als alles, was jemals war«, flüsterte sie ungläubig. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Noch besitze ich diese Kräfte nicht, Shanny. Aber du könntest mit mir in die Heilige Halle gehen. Ich würde mir die Mosaike gerne noch einmal ansehen. Damontez hat es mir erlaubt.« Die Möglichkeit, auf den Bildern etwas zu finden, das mir weiterhelfen konnte, war mir gestern in der Bibliothek gekommen, als ich nach den Siegeln der Engel gesucht hatte. Vielleicht fand ich das Zeichen, das Kyriel vor mich gemalt hatte, auf einem der Gemälde.
Zusammen liefen wir durch den Gewölbekeller und ich war froh, dass Shanny ihre Diamantsonne bei sich trug. Ich traute es Glynis durchaus zu, mir hier aufzulauern.
Das dunkle Kirchenschiff wirkte in seiner Verlassenheit bedrohlich. Die beleuchteten Mosaike waren die einzige Lichtquelle und der Tanz der herumgeisternden Farbscheiben auf dem Boden verlieh dem Raum einen gespenstischen Charme. Ich durchquerte die Halle und sah auf Cheriour. Sein diamantener Blick schien mir zu folgen. Schreckensfürst. Seelenspalter. Das Mädchen mit den entsetzten braunen Augen wirkte in der Einsamkeit der Halle fast so lebendig, dass ich mir einbildete, ihre Gegenwart auf der Haut zu spüren.
Aber außer diesem einen Mosaik gab es noch unzählige andere. Engel und Vampire, deren Namen ich nicht kannte, waren dargestellt, außerdem auch Lichtträger mitsamt ihren Stirnsiegeln.
»Das sind richtige Kunstwerke«, stellte ich fest. Shanny war neben mir stehen geblieben. »Kennst du diese Engel und Vampire?«
»Ein paar schon.« Sie deutete auf das Bild ganz links in der Reihe, in der auch Cheriour abgebildet war.
»Das dort sind die vier Erzengel: Michael, Gabriel, Raphael und Uriel. Sie senden einen Weltwandler herab.«
Ich lief zu dem ersten Mosaik. »Kann ein Lichtträger auch die Zeichen der Erzengel bekommen?«
Shanny nickte. »Große Kräfte. Raphaels Macht steht für Heilung. Natürlich kann ein solcher Lichtträger keine Toten auferstehen lassen oder so, doch er kann durchaus auch größere Verletzungen heilen. Da Vampire das aber auch können, sind diese Lichtträger nicht ganz so bedeutend. Sie spielen eher für die Ursprünglichen eine Rolle.«
»Welche Fähigkeiten gibt es denn überhaupt?«, hakte ich nach.
»Ich kann dir die begehrtesten und häufigsten Kräfte aufzählen. Niemand kennt alle, was es umso schwieriger macht, wenn wir gegeneinander kämpfen müssen.«
»Ich glaube, die Illusionisten stehen bei Vampiren nicht so hoch im Kurs.« Ich dachte an Raven.
»Nein, wir sind zu unberechenbar. Unser Siegel kann sich verändern und andere täuschen.« Sie tippte auf ihre Stirn und gab mir eine kurze Erklärung zu den Kräften der Engel: »Also, da wären: Raphael – Heilung, Eth – Äonen, also Zeit, Hamied – Wunder. Das ist eine tolle Kraft. Sie ist so überraschend. Wenn man glaubt, alles sei verloren, und ein Lichtträger mit dem Hamied-Siegel taucht auf …« Sie schwieg eine Weile, dann sprach sie weiter: »Michael – Seelen, das ist der Engel einer Divina, Nisroc – Raumkrümmung, Gabriel – Vision, Azrael – Angst. Ein solcher Lichtträger kann im Kampf deine Angst verstärken und dich derart schwächen, dass du nur deshalb verlierst.«
»Diese Kraft klingt negativ«, stellte ich fest. »Während alle anderen Kräfte positiv besetzt sind.«
»Azrael ist der Todesengel, was erwartest du?«
Ich musste kichern, auch wenn mir gar nicht danach zumute war. »Was ist denn der Engel der Illusion?«
Shanny drehte sich um und deutete auf ein Mosaik auf der anderen Seite: »Der da!«
Der Engel der Illusion war nur umrissen und in lichten Schemen dargestellt. Seine Körperhaltung erinnerte an ein Ypsilon, die Arme zum Himmel erhoben stand er dort, wie das Schächerkreuz höchstpersönlich.
»Wie heißt er?«
»Amitiel. Eigentlich ist er auch der Engel der Wahrheit. Es geht darum, Dingen eine andere Gestalt zu geben, und dabei aber nicht zu vergessen, was sie sind.«
»Pontus sagt, das Symbol erinnert an den Baum Edens.«
»Nun, da ging es ja auch um Wahrheit und Erkenntnis.« Shanny lächelte und ihr Blick verlor sich eine Zeit lang
Weitere Kostenlose Bücher