Spiegelblut
gefressen.«
»Ich töte Coco nicht. Niemals. Das kannst du nicht verlangen!«
Cheriour lächelte böswillig. »Nun, dann lebe ewig.« Die Konturen des Engels wurden schwächer. Er spielte mit seiner Angst.
»Nein, stopp! Warte!«
Und siegte.
»Ich höre.«
»Ich will wissen, warum. Sie ist ein Mädchen, unschuldig. Sie ist dabei, sich zu verlieben. Und in ihrem ganzen Leben hat sie nie wirkliches Glück erfahren.«
»Ihr Tod ist notwendig. Wenn es soweit ist, wirst du verstehen warum. Menschenleben sind kurz wie der Flug einer Sternschnuppe in einer langen Nacht. Sie wird sterben und ihre Seele leben. Mehr ist nicht wichtig.«
»Aber ich kann sie nicht töten, weil …«
»Weil du sie liebst?« Der oberste Cherub machte einen Schritt auf ihn zu.
Pontus nickte.
»Das weiß ich. Und ich hoffe, du tötest sie nicht, bevor sie den Fluch gebrochen hat.«
»Aber ich …«, setzte er an, jedoch besaß Cheriours Einwand durchaus Berechtigung. Er begehrte sie bereits viel zu sehr.
»Das Schicksalslicht verteilt die Liebe nicht gerecht«, sagte Cheriour jetzt. »Jedes Leben erfüllt seinen Zweck. Das eine dient der Liebe, Pontus, das andere dem Schmerz. Wieder ein anderes der Gerechtigkeit. Auch Engel haben ihre Themen. Weisheit, Illusion, Herrschaft, Zeit. Aber alle erfüllen ihren Sinn. Sie alle sind wichtig. In ihrer Gesamtheit sind sie alle eins. Es webt sich neu in jedem Augenblick und verliert doch niemals seine Struktur, so lange das Licht in ihm fließt. Aber das Licht ist wichtig.« Er beugte sich zu ihm vor. »Und es ist schwach, weil wir den Lichtträger verloren haben.«
»Ich weiß.« Das hatte er schon so oft zu ihm gesagt. Mal überheblich, mal kaltherzig, mal voll Mitgefühl, so wie jetzt.
»Es ist nicht gerecht.«
»Dein Leben war nie dazu bestimmt, die Liebe zu finden, Pontus.«
Er ballte die Fäuste, als wäre er ein Junge von zehn Jahren, der von seinem Vater eine Rüge erhielt. »Wofür ist es dann gut? Wenn es für jeden eine Bestimmung gibt, welche ist dann meine?«
»Vielleicht die Erfahrung der Unsterblichkeit?« Cheriour neigte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Aber am Ende deines Weges wirst du es wissen. Es gibt nicht ein Leben, das keinen Zweck erfüllt.«
»Und was ist mit den Seelenlosen? Welchen Zweck sollten sie erfüllen?« Er schluckte hart.
»Den des Verlustes.«
»Und ich finde meine Bestimmung nur, falls ich Coco töte?«
Cheriour schüttelte den Kopf. »Nein, dann bekommst du deine Sterblichkeit wieder. Das ist etwas anderes.«
»Und wenn Kyriel mir meine Sterblichkeit schenkt? Ohne dass ich sie töte?«
»Das kann er nicht. Ich bin der Engel, der Verfehlungen sühnt. Ich bin derjenige, der sie aufhebt.«
»Ich könnte auf ein anderes Spiegelblut warten. Auf eines, das mir nichts bedeutet«, schlug er vor.
»Ein Spiegelblut löst das nächste ab. Ein nächstes würde bedeuten, dass das Mädchen sowieso tot ist. Dann kannst du sie ebenso gut auch selbst töten. Wenn sie ein Spiegelblut ist, wirst du sie so lange bewahren, bis sie den Fluch bricht. Danach tötest du sie und hast dir deine Sterblichkeit verdient. Ansonsten wirst du ewig leben. In einer Welt, die untergeht und im Chaos versinkt.« Cheriour drehte sich um und eilte die Treppenstufen herunter. Mit jedem Schritt wurden seine Konturen unschärfer und verwischten schließlich mit den Mauern.
Pontus starrte ihm nach. Was wäre Cocos Antwort auf die Frage, ob sie für ihn sterben würde? Ein Leben für den Tod. Mach dich nicht lächerlich! Damontez war derzeit der Einzige, für den sie ein solches Opfer bringen würde.
Sie kennt den Nachtschatten, sie wird keine Angst haben, Pontus! Vielleicht ist es gar nicht so schrecklich, wie du es dir vorstellst? Du könntest sie betäuben, sie würde es nicht einmal spüren. Und du müsstest ja nicht mehr mit dem Schmerz leben – du wärst dann sterblich. Sterblich. Sterblich!
24. Kapitel
»Die Liebe ist ein Wunder,
das immer wieder möglich,
das Böse eine Tatsache,
die immer vorhanden ist.«
FRIEDRICH DÜRRENMATT
Ich durfte nicht hier sein. Nie hätte ich gedacht, dass ich einmal freiwillig seine Nähe suchen würde. Seine Räume waren spartanisch eingerichtet. Schlichte antike Möbel, viel Holz und alles insgesamt sehr dunkel. Nur ein paar Kerzen flackerten in ihren gusseisernen Wandhalterungen.
»Damontez?« Ich wusste gar nicht, wieso ich flüsterte.
Als ich am frühen Abend aufgewacht war, saß er bereits am Kamin und schürte das Feuer. Mit wenigen
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