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Spiegelblut

Spiegelblut

Titel: Spiegelblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta Maier
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vor mir auf, schwang von dem Feuerhengst sein Zepter wie ein Schwert auf mich herab. Meine Arme schossen vor meine Brust, doch es war zu spät. Die Spitze steckte bereits bis zu der Kronenkugel mitten in meinem Herz. Blink-Blink-Blink, wie eine Diamantsonne leuchteten die Farben durch meinen Traum. Aber nicht blau, sondern orange wie der Lichtwechsel. Schmerz färbte die Luft um mich in Rot. Mein Spiegelorigami flatterte wie eine aufgeschreckte Vogelschar, füllte alles aus, sogar Faylin.
    Er schraubte das Zepter in die Wunde. Ich spürte, wie sich der Dorn durch meine Wirbelsäule wand. Blut floss über meine Brust, verschwand in dem schimmernden Transparent. »Du stirbst. Niemand kann es mehr aufhalten. Der Schmerz in der Brust ist dein Herz. Die Halluzination hat ihren Höhepunkt erreicht.«
    Alles erhellte sich. Todesangst . Mein Spiegel fing ein, was um mich war. Das letzte große Aufbegehren. Kjell hatte mir das Paris der Revolution gezeigt, Faylin ließ mich fliegen. Meine Arme waren weit ausgebreitet, der Saum der Klippe, auf die ich in Gedanken zu rannte, verschwamm. Meine Füße wurden leicht, als ich sprang. Ich stürzte nach oben, vielleicht auch nach unten, ich wusste es nicht. Aber es war eindeutig das Gefühl des Fliegens, wie ich es aus meinen Träumen kannte. Schwerelosigkeit ohne Zeit: der Ort, den mir Faylins Seele zeigte. Sie war nicht im Heiligtum der Engel gefangen, daher war seine Präsenz auch nie so kalt gewesen wie die der anderen Seelenlosen. Vielmehr war seine Seele körperlos, ohne eigene Gestalt. Um mich herum leuchtete alles in Purpur und Zinnober, ein gleißendes Lichtspiel aus den Farben der Morgenröte – und ich verstand. Faylin war der Lichtbringer! Ich schlug bei dieser Erkenntnis buchstäblich auf den Boden auf.
    »Du bist der Erste Gefallene«, wisperte ich entsetzt, beide Hände umschlossen die Sonne des Zepters, ich taumelte nach hinten. Ich sah ihn in seiner wirklichen Gestalt: Gottes strahlendstes Geschöpf, das schönste Wesen, das ich je gesehen hatte, zu schön, um wahr zu sein. Langes, goldenes Haar, die Haut und das Antlitz hell und rein wie das erste Licht, das erschaffen wurde – ein wahrhaft göttliches Gesicht. Ich konnte ihn nicht beschreiben, es war unmöglich. Luzifer war aus dem ersten Licht Gottes gemacht! Warum er gefallen war? Kein Spiegel der Welt konnte diese Schönheit einfangen, ohne zu verblenden, auch Hadurah nicht. Schon jetzt sehnte ich mich nach seinem Abbild, obwohl ich es noch sah.
    »Du hast mich entlarvt. Zu spät, würde ich sagen.«
    »Was willst du? Wieso tötest du die Spiegelseelen? Was wird weitergegeben?«, rief ich aus, aber er war fort.
    Alles war wieder da. Die Enge, meine schmerzenden Schultern, die Dunkelheit, die Stille. Mein Herz stach, als wäre es tatsächlich durchbohrt worden. Ich bekam keine Luft mehr, röchelte, Flüssigkeit quoll aus meinem Mund. Meine Glieder wurden taub. Es war, wie Faylin es vorausgesagt hatte, mein Herz würde einfach aufhören zu schlagen. Jetzt bäumte es sich mit letzter Kraft auf wie die Geisterpferde. Sie trampelten über mich hinweg, stampften mich in den Boden … Ich schrie … plötzlich konnte ich mich hören …
    »Cheval, cheval, je vais mourir …« Ich schrie auf Französisch, alle anderen Worte waren ausgelöscht. »Daamontezz, aidez-moi, aidez-moi …« Ich konnte nicht mehr einatmen.
    Mein Körper flog auf die Füße, mein Rückgrat wurde gestreckt, die Schultergelenke aus der Zwangslage befreit. Meine Augen waren immer noch blind.
    »Shhht! Still!«
    »Chevaux … attrapez les chevaux …« Meine Stimme brach infolge meiner Luftnot. Mein Rücken krümmte sich, der Brustkorb fiel in sich zusammen. Mein Kopf sank nach unten.
    Ich war dem Tode nahe. Ich wusste es, weil ich keine Angst mehr hatte und mitten im Schnee stand. Die Flocken schmeckten nach Silber – und ein bisschen nach Abschied. Dann wich das Bild und tat einen goldenen Gang vor mir auf. Er besaß keinen Anfang, aber am Ende glänzte das Licht.

29. Kapitel
    »Denn der Raum des Geistes,
dort wo er seine Flügel öffnen kann,
das ist die Stille.«
    ANTOINE DE SAINT-EXUPERY, Ein Lächeln ist das Wesentliche
    Ich ging wie davon angezogen auf das Gold zu und hörte trotzdem Faylins Stimme. Der Eine hat die Spiegelseelen geschaffen . Was genau hatte er damit gemeint? Was hatte der Eine getan?
    Die Seele des Engelmädchens zerrissen! Konnte ein Engel seelentot sterben? Und wenn nicht, wo waren dann die beiden Seelenhälften des

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