Spiegelblut
Wangen festgefroren und brannten auf meiner Haut, als wären sie aus Feuer.
Du kannst die Seelen sehen , sagte eine Stimme in mir. Du weißt, dass es sie gibt. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Du hast dem Tod bereits ins Gesicht geblickt.
Erinnere dich!
Sie sagen, du seist eine Spiegelseele. Du siehst mit den Engelsinnen. Du hast den Tod gesehen. Und du hattest keine Angst. Erinnere dich! Wann war das?
Irgendwo wartete Finan auf mich. Vielleicht stand er schon hinter dem Licht und streckte seine Hand nach mir aus. Du kannst mich nicht sehen, aber dennoch bin ich hier …
Erinnere dich!
Du kannst nicht fliehen, du bist ein Teil von mir …
Von weiter Ferne kam eine helle Gestalt auf mich zu. Aus meiner liegenden Position schien sie übermächtig und stark.
Hilf mir! Nimm mich mit! Bitte, nimm mich mit!
Sie kam näher, trat an mich heran und schüttelte stumm den Kopf. Noch nicht. Sie berührte mich nicht und streifte meine Seele doch sanft wie eine Feder.
Als ich neun war, habe ich dich gezeichnet, dachte ich verwundert. Wie kann das sein? Du siehst aus wie der Engel, den mein Bruder mir beschrieben hat. Ein bisschen strubbelig, so wie Papageno aus der Zauberflöte von meiner Maman. Ich war so eifersüchtig. Konnte er dich sehen, weil er ein Spiegelblut war? Mit seinem inneren Auge? Und kann ich dich jetzt sehen, weil ich ein Spiegelblut bin? Können Spiegelseelen Engel sehen?
Er lächelte. Ich hörte einen Namen. Kyriel , murmelte ich. Was soll ich tun? Was ist meine Aufgabe? Wie kann man zwei Seelenhälften zusammenschließen? Muss ich das tun?
Wenn du weißt, was du suchen musst, hast du bereits gefunden. S eine Stimme war in mir, sie war wie ein warmer Strom aus goldenem Licht.
Ich verstehe das nicht. Bitte, was sind Seelen?
Ist das wirklich so wichtig zu wissen?
Er beugte sich zu mir herab und betrachtete mein Gesicht. Dort, wo seine Pupille sein sollte, glänzte ein Licht, hell wie das Tor zum Paradies. Sogar mit diesen zerzausten Haaren wirkte er erhaben – und gütig. Sein Blick zeichnete zwei Kreise, die sich schnitten. Direkt vor meiner Stirn. Sie funkelten und sprühten Wärme um mich herum, selbst dann noch, als er längst wieder in der Nacht verschwunden war.
Erinnere dich!
Du kannst mich nicht sehen, aber dennoch bin ich hier. Du kannst nicht fliehen, du bist ein Teil von mir.
Die ganze Zeit über wiederholte ich die Sätze in meinen Gedanken. Irgendwann zwang ich mich dazu, sie zu flüstern, als würden sie mein Leben retten, als würde ich damit jemanden rufen.
16. Kapitel
»Wen die Liebe erfasst hat,
der kennt ihr Feuer:
Sie ist eine Flamme Gottes!
Mächtige Fluten können sie nicht auslöschen,
gewaltige Ströme sie nicht fortreißen.
Böte einer seinen ganzen Besitz,
um die Liebe zu kaufen,
so würde man ihn nur verspotten.«
HOHELIED DER LIEBE, 8
Er hatte sie gefunden. So wie damals in Glasgow. Plötzlich – einer inneren Stimme folgend – wusste er, wo er nach ihr suchen musste. Zusammengerollt wie ein ausgesetztes Kätzchen lag sie mitten im Schnee, hundert Meter vor dem Eingang, der in die Katakomben führte. Niemand hatte diesem Zugang viel Beachtung geschenkt, zumindest nicht, was Coco anging. Der Geheimweg durch die Katakomben in die Heilige Halle war für Kenner in wenigen Minuten zu durchschreiten, jeder andere würde Stunden brauchen oder sich hoffnungslos verlaufen.
Glücklicherweise war Damontez früher als geplant aus Glasgow zurückgekommen. Gott bewahre – schon als er im Innenhof aus dem Chrysler gestiegen war, schien er Cocos Verschwinden zu spüren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er selbst noch geglaubt, sie läge schlafend vor dem Kamin.
Damontez hatte jedem Einzelnen befohlen, sich an der Suche zu beteiligen. Im Hauptturm, in den erhöhten Seitenflügeln, in den vier Höfen, vor der Wehrmauer, im kleinen Schlossgarten, in den düsteren Gewölben. Er selbst schloss sich Pontus an. Zehn Minuten später hatten sie Coco gefunden. Nie würde er Damontez’ Blick vergessen, als er zur Seite getreten war, um diesem die Sicht auf das Mädchen freizugeben. Die Verzweiflung und die Schuld, die in den dunklen Augen lagen, hätten tausend Himmelshallen zum Einsturz bringen können. Und Pontus kam es vor, als hätten sich alle Lichtfäden von Ahadiels Schicksalsgeflecht an ihren Kettbäumen geschwärzt, ja selbst die Hand des Weberengels schien mit dem Rest Leben in Coco zu zittern. Sekunden. Minuten. Ewigkeiten. Unsterblich lang.
Wie in einem Traum, oder
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