Spiegelblut
vielmehr so, wie er sich die Träume der Menschen vorstellte, hatte Coco plötzlich den Kopf zu ihnen gedreht und ein Lächeln versucht. Aber ganz gegen seine Erwartung galt ihr Lächeln nicht ihm, sondern ihre Lippen formten den Namen des Halbseelenträgers: »Da-mon-tez.« Möglich, dass sie ihn, Pontus, gar nicht entdeckt hatte – und trotzdem fühlte er sich Jahrhunderte zurückgeworfen, an einen anderen Ort, in eine andere Zeit. Er zwang den Atem zurück in seine Kehle, presste die Zunge gegen den Gaumen. Seine Fäuste ballten sich in blindem Zorn, es fehlte nicht viel und er hätte Damontez umgerissen, um Coco selbst auf die Arme zu nehmen. Der flatternde Vogel in seiner Brust wollte die Schwingen ausbreiten, aber sie klebten wie ölverschmiert fest, ein dumpfer, hilfloser Schmerz.
Sie gehört zu einem Halbseelenträger , sagte er sich. Das war der Wille der Engel.
Hätte er sie doch zu Remo gebracht!
Du wirst das Spiegelblut töten.
Mehr nicht?
Das kann ich nicht. Das will ich nicht.
Wieso flüstert sie seinen Namen? Sie sollte ihn hassen. Sie musste ihn hassen, um ihrer Sicherheit willen. Damontez tat alles dafür. Aber warum, verdammt: Flüstert. Sie. Dann. Seinen. Namen?
»Wo warst du, Glynis?« Damontez lief rastlos vor Cocos Lager auf und ab und blickte die Vampirin lauernd an.
»Sie hat fantasiert.« Glynis hob beschwichtigend die Arme. »Coco hat behauptet, ich wolle sie vergiften. Sie hat mir den Becher aus der Hand geschlagen und ins Feuer geworfen.«
Manchmal dachte Pontus, es wären gerade Damontez’ Augen, die bei Vampirinnen den Wunsch weckten, ihn heilen zu können, als hätte er eine tödliche Krankheit. Natürlich war er schön, schöner als viele andere, fast als hätte das Schicksal ihm einen gerechten Ausgleich für seine halbe Seele zukommen lassen wollen. Aber die Aura und die Augen – entweder sie erschreckten einen zu Tode, oder sie forderten heraus. Kopfschüttelnd betrachtete er die Rothaarige, die alle anderen Vampire mit ihren Reizen hätte locken können. Selbst ihn, der er so alt war und sich vom Leben übersättigt fühlte, ließen ihre weiblichen Rundungen nicht kalt – und sie wusste sie zudem bei jeder noch so kleinen Bewegung geschickt einzusetzen.
»Sie war doch viel zu geschwächt, um sich aufzulehnen«, widersprach Damontez verwirrt.
»Meinst du, ja?« Glynis’ Augen blitzten. »Dann erkläre mir mal, wieso sie in den wenigen Minuten, in denen ich ihr einen neuen Tee aufgebrüht habe, einfach so entwischen konnte?« Sie machte einen Schritt auf Damontez zu. »Ich habe mit dem Gedanken gespielt, Shanny zu rufen, aber sie hatte eine Trainingseinheit mit Pontus. Ich glaube«, sie seufzte schwer, »sie hat dir die ganze Zeit Schwäche vorgespielt und nur auf den richtigen Zeitpunkt gewartet!«
Damontez schwieg.
»Ich gebe zu, es war mein Fehler. Ich hätte sie niemals allein lassen dürfen«, lenkte sie jetzt ein und legte ihre Hand vertraulich auf Damontez’ Oberarm. Die langen Nägel glänzten blutrot. Wie zufällig streifte sie beim Zurückziehen der Finger ihren Hals, wie um sich darzubieten.
Pontus runzelte misstrauisch die Stirn. Er selbst hatte Coco zwar seit zwei Tagen nicht mehr gesehen, aber er wusste, dass Menschen mit so hohem Fieber kaum imstande waren zu laufen. Jedoch – und das hatten sie ihn über die Jahrhunderte gelehrt – waren Menschen, wenn sie verzweifelt genug waren, auch fähig, Unmögliches zu leisten. Und Coco war verzweifelt – zumindest hatte er das angenommen, bis sie Damontez’ Namen geflüstert hatte, mit einem Lächeln auf den fast erfrorenen Lippen.
»Ich habe sie dir anvertraut.«
»Es tut mir wirklich leid, Damontez. Es war ein Fehler.«
»Nur eine Viertelstunde später und sie wäre erfroren.« Damontez wandte sich von Glynis ab und betrachtete Coco.
Pontus erahnte Damontez’ Zorn hinter den ruhigen Worten. Er starrte ebenfalls auf das Mädchen, das unter mehreren Decken vor dem Kamin lag, wie zur Letzten Ölung aufgebahrt. Drei Stunden waren vergangen, seitdem sie Coco gefunden hatten. Ihre Wangen schimmerten im Licht des Feuers rosig, und auch ihre Augen waren geöffnet. Wie viel sie von dem Gespräch mitbekam, wusste er allerdings nicht. Ihr Herz schlug schnell und hart, vor Angst oder Fieber war unmöglich zu sagen. Aber man sah den raschen Puls direkt an der Kehle – und das Zucken machte jeden in diesem Raum nervös.
»Wenn ich du wäre, Damontez«, fing Glynis jetzt an und umschritt Coco auf ihrem
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