Spiegelkind (German Edition)
sichtlich.
»Ist zu Hause alles in Ordnung?«, fragte er vertrauensvoll und beugte sich tief zu mir herunter.
»Kann man nicht so direkt sagen«, bekam ich irgendwie heraus.
»Dem Herrn Papa geht’s gut?«
»Dem schon.« Mir wurde unangenehm bewusst, dass meine Stimme sehr hoch und kindlich klang.
»Möchten Sie vielleicht einen Kakao mit mir trinken?«, fragte er augenzwinkernd.
»Nein, vielen Dank.« Jetzt stotterte ich fast.
Er wirkte erstaunt. »Aber was kann ich denn sonst noch für Sie tun?«
Ich spannte meine Beine an und streckte sie und schoss in einer einzigen Bewegung aus diesem Sessel. Er zuckte unwillkürlich zurück.
»Meine entführte Mutter wiederfinden«, sagte ich. »Das wäre doch mal eine gute Idee, was Sie für mich tun könnten.«
»Wie bitte?«
Ich pustete konzentriert ein unsichtbares Staubkorn von meinem schwarzen Lyzeumsärmel, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt.
»Meine Mutter finden«, wiederholte ich möglichst beiläufig. »Sie haben doch vor Kurzem den Tatort besichtigt, vielleicht erinnern Sie sich noch.«
»Welchen Tatort?« Sein Erstaunen steigerte sich ins Bodenlose.
»Waren Sie nicht derjenige, der die Blumenerde vom Boden aufgefegt hat? Gibt es noch mehr solche wie Sie, so bisschen rund, mit diesen feuchten Flecken unter den Armen?«
Jetzt schnaufte er und die Gutmütigkeit begann, aus ihm zu weichen wie Luft aus einem angepiksten Luftballon.
Und dann vergaß er erstens, dass er mich eigentlich gerade siezte, und zweitens, dass er schon mal etwas ganz anderes behauptet hatte.
»Hör mal, Mädchen«, sagte er und sein Gesicht veränderte sich. Jetzt war es kein bisschen nett und die Augen waren schmal und gnadenlos. »Ich habe viel Arbeit, meine Hübsche, und ich möchte nicht, dass du mich davon abhältst. Denkst du, irgendjemand auf dieser Station wird ernsthaft nach einer Phee suchen? Verschwinde auf der Stelle und sei froh, dass wir dein Geheimnis für uns behalten, Pheentochter. Danke deinem Vater auf Knien, dass ich überhaupt mit dir geredet habe. Was meinst du, was ich jetzt mit dir getan hätte, wenn du nicht die Tochter von Doktor Rudolf Rettemi gewesen wärest?«
Er fuhr mit dem Zeigefinger, dessen Kuppe sich kratzig anfühlte, meine Wange entlang, von der Schläfe bis zum Kinn, während ich ihm in die Augen starrte. Dann breitete sich ein Lächeln auf seinem Gesicht aus. Er beobachtete mich, wie ich zurückwich, mich gegen die Rückenlehne drückte, mich verrenkt aufzurappeln versuchte und, sobald es mir gelungen war, davonstürzte. Als ich endlich draußen stand, klapperten meine Zähne, aber nicht vor Kälte.
Wie deine Mutter
Draußen regnete es immer noch, aber ich beeilte mich nicht, ich ging ganz langsam nach Hause, meine Haare hingen herunter, in meiner Kapuze hatte sich ein kleiner See gesammelt. Ich heulte. Wenn ich es nur gekonnt hätte, hätte ich diese ganze Station in die Luft gejagt, zusammen mit den dumpfen Gesichtern, die sie bevölkerten. Wie hatte sich doch alles innerhalb kürzester Zeit verändert. Ich war kein kleines Mädchen mehr und die Polizisten waren nicht mehr meine Freunde.
Einer von ihnen hatte mein Gesicht angefasst und mich Pheentochter genannt. Offenbar war das so ziemlich das Schlimmste, was ihm gerade noch für mich einfiel.
Die nasse Kälte kroch unter meine Klamotten und ich war auf einmal zu erschöpft, um noch richtig traurig zu sein. Ich dachte an meine Mutter. Bis zu ihrem Verschwinden war sie die ganze Zeit bei mir gewesen, selbst in den Wochen mit meinem Vater hatte ich ihre ständige Nähe gespürt. Solange sie da war, war ich niemals beleidigt worden. Und ich hätte mir nicht vorstellen können, dass jemand meiner Mutter etwas Ernsthafteres antun konnte als das bisschen Getuschel hinter ihrem Rücken. Selbst in den heftigsten Streitereien mit meinem Vater hatte sie auf mich gewirkt wie jemand, der stärker als andere war und niemals in wirklicher Gefahr.
Aber jetzt war sie nicht mehr da und alles war verändert. Als ob jemand den Schutzzaun weggenommen hätte, der all die Jahre zwischen mir und dem Rest der Welt existiert hatte.
Wenn es mir schon so elend ging – wie musste sie sich gerade fühlen?
Beim Gedanken daran hörte ich auf zu heulen und versuchte, mein Gesicht trocken zu reiben, was im Regen natürlich nicht ging. Als ich zu Hause ankam, waren meine Augen nicht mehr rot, dafür die Lippen blau. Meine Großmutter empfing mich schon in der Tür, sie sah aufgebracht aus, aber ich
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