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Spiegelriss

Spiegelriss

Titel: Spiegelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alina Bronsky
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oder ein staatlich zertifiziertes Kunstwerk.
    Dann sieht sie wieder mich an, die Hand auf dem zugeschlagenen Fotoalbum.
    »Dann habt ihr es also von Anfang an gewusst«, sage ich. »Alle haben es gewusst, nur ich nicht.«
    »Niemand hat es gewusst«, sagt Ingrid gewichtig. »Unser Ruf wäre ruiniert gewesen, wenn es jemand erfahren hätte. Aber es ging nicht anders. Wir sind natürlich sofort umgezogen, als es passiert war. Wir haben alles dafür getan, dass die Familie normal erschien.«
    Als es passiert war bedeutet – als meine Mutter und ich in das Leben des Mannes getreten waren, den ich später Papa nannte.
    »Aber ihr habt gewusst, dass ich nicht…« Ich beginne zu stottern und die Worte nicht die richtige Tochter meines Vaters bin bleiben irgendwo in meinem Hals stecken.
    »Natürlich haben wir es gewusst.« Ingrid presst die Lippen aufeinander. »Wie stellst du es dir sonst vor?«
    »Aber…« Ich versuche es mir in der Tat vorzustellen. Vor vierzehn Jahren. Ich war also knapp zwei, als meine Mutter meinen Vater kennengelernt hat. Sie haben geheiratet. Dem Ganzen lag ein Pakt zugrunde – mein Vater war todkrank und meine Mutter hat ihn mit dem Inspiro und ihrer Kraft am Leben gehalten. Dafür hatte er ihr Schutz vor der Normalität versprochen, solange sie bei ihm blieb und darüber hinaus. Er hat sich nicht daran gehalten und deswegen ist er nicht mehr da. Aber den Bildern nach zu urteilen, war er mein ganzes Leben lang nicht da gewesen. Auch sein Leben war geliehen.
    »Hat mein… Hat er mich adoptiert?«
    »Natürlich«, sagt Ingrid. »Auch das ging nicht anders. Wir waren nicht begeistert.«
    »Das kann ich mir denken«, sage ich. Meine Stimme müsste jetzt viel bitterer klingen. Ich schaffe es einfach nicht, weiter wütend auf sie zu sein.
    Ich starre sie an und denke, dass ich sie überhaupt nicht kenne. Ich habe sie als kleines Kind erst gemocht, dann haben sie mich genervt. Irgendwann habe ich sie gehasst – weil sie meiner Mutter gegenüber so unfreundlich waren, was richtig eskaliert ist, als Mama beschlossen hatte, sich von Papa zu trennen.
    Aber auch wenn wir uns mit riesigen Schritten voneinander entfernten – sie hatten mich auch dann mit keiner Silbe spüren lassen, dass ich nicht ihre leibliche Enkelin bin.
    Und das passt überhaupt nicht zu meinem Bild von ihnen.
    »Wie war ich denn eigentlich so als Kleinkind?«, frage ich. Irgendwas kitzelt in meiner Kehle, ich würge daran herum. Ich will mir nicht anmerken lassen, was ich gerade fühle. Sonst müsste ich heulen.
    Ingrid lächelt. »Schmutzig«, sagt sie.
    Ich starre sie an und schlucke.
    »So klein«, sagt Reto und hält seine Hand einen Dreiviertelmeter über den Boden.
    »Du hast immer geweint«, sagt Ingrid und ihre Stimme klingt vorwurfsvoll. »Man konnte machen, was man wollte, immer hast du geweint. Ich habe dir so viele Spielsachen mitgebracht und Vitaminriegel und Fruchtjoghurts – und trotzdem hast du geweint!«
    »Der Verband hat ihr wehgetan«, sagt Reto zu Ingrid.
    Ich schaue zwischen den beiden hin und her. »Der Verband?«
    »Ja.« Ingrid nickt nachdenklich. »Du hattest nach diesem Unfall den Verband.« Sie deutet mit den Händen irgendwas um ihren Oberkörper an. »Ganz dick. Deine Mutter hat dich immer selber verbunden. Wollte es nicht anders.« Wieder Missfallen in der Stimme.
    »Was für ein Unfall?« Aus dem Jucken auf meinem Rücken wird ein Brennen und Pochen, als würden die Narben jetzt mitreden wollen.
    »Rudolf hat gesagt, wir sollen nicht danach fragen.« Ingrids Gesicht verrät einiges darüber, was sie von dieser Bitte gehalten hat. »Und deine… Mutter ließ schon damals nicht vernünftig mit sich reden.«
    »Ich wusste gar nichts von einem Unfall!«
    »Dann hat sie dir also auch nichts erzählt.« Ein Hauch Triumph schleicht sich in Ingrids Stimme.
    Nein, denke ich bitter, sie hat mir nichts erzählt. Wollen wir jetzt gemeinsam auf meine Mutter schimpfen? Endlich mal etwas, was uns verbindet.
    Mein Blick fällt erneut auf das Fotoalbum auf Ingrids Schoß.
    »Ein Foto«, sage ich. »Es muss irgendwo ein Foto von mir aus dieser Zeit geben. Als ich klein war, mit dem Verband. Zeigt es mir bitte.«
    Ingrid und Reto sehen sich an. Dann schüttelt Reto den Kopf.
    »Wir haben kein Foto von dir aus dieser Zeit.«
    »Ihr wolltet mich nicht fotografieren«, kapiere ich. »Weil ich nicht eure richtige Enkelin bin.«
    »Nein«, sagt Ingrid. »Deine Mutter wollte es nicht. Alle Kameras sind damals kaputtgegangen

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