Spiegelschatten (German Edition)
verlieren«, hatte Greg neulich augenzwinkernd zu ihr gesagt. » Es dauert noch ein paar Jahre bis zum Henri Nannen Preis. Unser Beruf besteht zu neunzig Prozent aus Handwerk und Recherche und zu neun Prozent aus Fleiß. Da bleibt für Genialität leider nicht viel übrig.«
Gerade mal ein mickriges Prozent, hatte Romy ernüchtert gedacht. Nicht, dass sie sich für ein Genie gehalten hätte. Und nicht, dass sie sich für die niederen Arbeiten, die sie als Volontärin zu erledigen hatte, zu schade gewesen wäre. Aber sie hätte nur allzu gern ein paar Stufen ihrer Ausbildung übersprungen, um zu schreiben, zu schreiben und zu schreiben.
» Im Grunde seines Herzens ist Maxim ein absolut liebenswerter Mensch«, hörte sie Björn sagen.
Liebenswert, dachte Romy. Wert, dass man ihn liebt.
» Im Grunde seines Herzens?«, fragte sie. » Wie tief muss man denn da bohren?«
Sie hasste sich selbst. Wieso brachte sie es nicht fertig, Maxim eine zweite Chance zu geben?
Wohl eher eine zehnte, elfte oder zwölfte, dachte sie bitter. Dieser Typ hatte schon mehr Chancen versägt, als andere jemals erhielten. Dennoch…
» Irgendwie hast du recht«, gab sie kleinlaut zu. » Etwas an ihm muss… besonders sein, sonst würdest du ihn nicht lieben.«
Björns leises Lachen trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie schwor sich, nie wieder schlecht über Maxim zu reden.
» Wo ist er denn gerade?«, fragte sie.
Vermutlich im Badezimmer, ging es ihr durch den Kopf, wo er sich aufstylt und an seinem unvergleichlichen Spiegelbild erfreut.
» Du weißt ja, dass er dauernde Nähe nicht aushält«, erklärte Björn. » Und dass er sich schnell eingesperrt fühlt. Er muss ständig in Bewegung sein…«
Und mein Bruder zählt die Stunden, in denen er mit ihm zusammen sein darf, dachte Romy. Gibt es größere Gegensätze?
» …und braucht jede Menge Freiraum.«
» Und den holt er sich wo?«
» Romy…«
» Sorry.«
» Schon gut.«
» Und du? Sollen wir uns zum Mittagessen treffen?«
Björn zögerte. » Sei mir nicht böse«, sagte er dann, » aber ich möchte lieber auf Maxim warten. Ich weiß ja nicht, wie lange es dauert, bis wir uns wiedersehen.«
Romy konnte das nachvollziehen, wenn es ihr auch nicht gefiel.
» Okay«, sagte sie. » Aber wir holen das nach, ja?«
» Versprochen.«
» Hab dich lieb, du Dösel.«
» Gleichfalls.«
Für einen Moment war sie Björn wieder so nah wie früher. Bevor die Rührung sie überwältigen konnte, drückte sie das Gespräch weg und beugte sich rasch über ihren Laptop.
Und gleich kehrten ihre Gedanken zu Cal zurück.
Cal …
War es wirklich möglich, dass sie ihn verlor?
Es dauerte ewig, bis es ihr gelang, so in die Arbeit einzutauchen, dass sie nicht mehr an seinen Verrat dachte und die Geräusche ihrer Umgebung nur noch als Hintergrundkulisse wahrnahm. Klingeltöne, Stimmen, das Fauchen der Espressomaschine, ab und zu ein Lachen und…
» Hi.«
Widerstrebend blickte Romy auf.
Vor ihr stand ein Mädchen, etwa in ihrem Alter, und lächelte sie an. Dieses Lächeln war so voller Herzlichkeit, es wirkte so aufrichtig und so offen, dass Romy nicht anders konnte, als es zu erwidern.
» Hi«, sagte sie. » Suchst du jemanden?«
» Jetzt nicht mehr.« Das Lächeln des Mädchens vertiefte sich. » Jetzt hab ich dich ja gefunden.«
» Du willst zu mir?«
» Ja.«
Es war noch nie vorgekommen, dass jemand, den Romy nicht kannte, sie in der Redaktion aufgesucht hatte. Verblüfft starrte sie das Mädchen an.
» Ich habe deinen Artikel über die Totenkatze gelesen. Er hat mich nicht mehr losgelassen.«
Diese Katze, eine alte Streunerin, war irgendwann in einem Neusser Altersheim aufgetaucht und dort geblieben. Nach einer Weile hatte man beobachtet, dass sie über eine ganz besondere Begabung verfügte: Sie konnte den nahenden Tod von Menschen erspüren.
Sobald sie auf das Bett eines Bewohners sprang und sich dort niederlegte, wusste man, dass dieser Mensch binnen weniger Stunden sterben würde.
Romy hatte die Katze gesehen, als sie das Heim besucht hatte. Eine ganz gewöhnliche Straßenkatze, die auf einem Stuhl beim Eingang geschlafen hatte und sich gutmütig von Romy kraulen ließ.
Nicht mal ihr Blick war außergewöhnlich gewesen.
Trotzdem hatte Romy einen Schauder gespürt.
» Und die Sterbenden?«, hatte sie den Heimleiter gefragt, einen unscheinbaren Mann mit sanften Augen und schütterem Haar.
» Sie verlassen uns ruhiger mit der Katze an ihrer Seite«, hatte er schlicht
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