Spieglein, Spieglein an der Wand
damit hinterm Berg zu halten, wer ich bin.“
„Das hast du doch eigentlich nie getan“, sage ich.
Im Keller herrscht schon seit einiger Zeit Ruhe. Vielleicht machen sie eine Pause. Rasmus findet eine alte Beck-Nummer auf meinem iPod.
„Ich fasse es nicht, dass du auf dieser Frühlingsparty auftreten willst“, sage ich. „Die Leute sind besoffen und vollkommen lächerlich.“
Dass Rasmus auf Jungs steht, ist bereits das am schlechtesten gewahrte Geheimnis der Schule. Warum muss er dann auch noch auf die Bühne und sich produzieren? Die wenigen, die ihn hassen, werden es anschließend noch mehr tun, und dem Rest wird es einfach egal sein.
„Ich trete als Mizz Take This auf, weil ich zu dem stehe, was ich bin!“
„Ein Typ in Frauenklamotten?“
„Ein großer, fetter Homo!“
„Jetzt reiß dich doch mal zusammen!“
„Ich habe keine Lust mehr, mich immer zusammenzureißen. Ich schäme mich für nichts. Du hast sie doch selbst gehört, Mateus. Sie laufen durch die Gegend und tuscheln hinter meinem Rücken.“
„Das ist doch nur ein Haufen Idioten“, sage ich. „Warum ignorierst du die nicht einfach?“
„Weil ich keine Angst vor ihnen habe.“
„Aber du musst doch nicht Zielscheibe spielen, nur um ihnen zu beweisen, wie mutig du bist.“
Jetzt mischt Juliane sich ein: „Wir wissen schon, dass es einige provozieren wird, aber so ist es ja auch gedacht!“
„Wir?“, frage ich. „Willst du etwa auch auf die Bühne?“
„Nein, aber Rasmus und ich haben viel darüber gesprochen. Wir sind uns einig, dass dies der richtige Weg ist. Damit alle sehen können, dass wir uns nicht schämen.“
Rasmus wirft den Kopf in den Nacken. „Ich werde mich eben nicht auf leisen Pfoten outen, sondern auf donnernden Stilettoabsätzen!“
Juliane wirft ihm bewundernde Blicke zu. Man könnte fast meinen, sie wäre verliebt.
26. März
Eine Woche lang ist mein Vater der glücklichste Mann in Østerbro. Während der Mahlzeiten unterhält er mich mit den Fortschritten seiner Band. Seiner Meinung nach haben sie schon jetzt ihr altes Niveau von vor zwanzig Jahren erreicht. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, wann sie wieder auftreten werden. Er scheint wirklich damit zu kämpfen, seine Scheidung und die geplatzten Träume in Afrika zu verarbeiten. Deshalb vergesse ich unsere Streitereien und lobe ihn. Seinen Versuch, ein neues Leben mit Resten aus seinem alten Leben aufzubauen, kann ich schon anerkennen. Doch eines Morgens liegt ein weißer Umschlag im Briefkasten. Er ist an mich adressiert, aber mein Vater sieht gerade noch, wer der Absender ist. Im Kuvert steckt eine Einladung zur Hochzeit im September. Das treibt mich nicht gerade dazu, meinen Kalender in die Hand zu nehmen. Wenn meine Mutter heiraten will, dann ist das ihre Sache, aber ich muss dabei nicht meine Glückwünsche heucheln. Unter keinen Umständen werde ich noch eine Feier am „Tisch der jungen Leute“ durchstehen.
Am selben Abend will mein Vater wissen, was in dem Umschlag von meiner Mutter und Johannes war. Da er die Wahrheit früher oder später sowieso erfahren wird, erzähle ich ihm ehrlich, dass es eine Einladung zu ihrer Hochzeit gewesen ist. Aus seinem Gesicht entweicht schlagartig alle Freude. Ein paar Stunden später höre ich, wie er einen Rundruf startet und alle seine Bandproben absagt. Stattdessen sucht er ein altes Fotoalbum heraus und ruft mich, damit wir zusammen einen Ausflug in die Allee der Erinnerung machen können. Ich setze mich neben ihn, weil er mir so leidtut, nicht weil ich Lust auf diese nostalgische Selbstquälerei habe – denn jetzt geht es um die Zeit, die einmal war. Mein Vater hält bei einem Bild von meiner Mutter an einem Strand inne. Es ist während eines Campingurlaubs in Skagen entstanden. Bevor ich geplant war.
Ich übernehme das Fotoalbum und blättere schnell weiter zu einer Schulkomödie in der dritten Klasse. Wir spielten Robin Hood und ich war Bruder Tuck – mit einem Kissen unter dem Kostüm und einer falschen Glatze. Ich hatte jenen Tag komplett vergessen, doch jetzt fällt er mir mithilfe einiger alter Schulfotos plötzlich wieder ein. Die Mönchskutte kratzte an Armen und Beinen, und ich hatte insgesamt sechs Sätze vorzutragen, die ich wochenlang übte.
In diesen Bildern liegt zu viel. Besonders das, auf dem Bruder Tuck und Robin Hood stolz posieren und sich umarmen. Denn ich hatte wohl vergessen, dass Jonathan einmal so klein war und dass wir beide zusammen einmal so klein waren. Er war
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