Spieglein, Spieglein an der Wand
ist das nur immer mit mir und diesen starken, unglücklichen Mädchen? Warum verknalle ich mich nur noch mehr in sie, wenn sie ihren Panzer ablegen und sich an meiner Schulter ausweinen?
Juliane setzt sich auf und wirkt schon wieder so, als würde sie ihre Ehrlichkeit bereuen. „Ich habe vorhin ein paar Gerüchte gehört.“
„Worüber?“
„Über Winky. Er wurde an dem Abend, an dem wir zusammen unterwegs waren, zusammengeschlagen.“
„Was? Aber als wir uns verabschiedet haben, wollte er doch gleich ein Taxi nehmen.“
„Das hat er anscheinend nicht mehr geschafft.“
Um kurz nach eins taucht Lasse auf. Er kann bestätigen, dass Winky nach unserem Abend in der Stadt überfallen wurde. Man hat ihn so brutal zusammengeschlagen, dass er erst vor zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Die Täter waren der Rote und die Schiefnase von der Wurstbude.
„Sie haben ihn ausfindig gemacht“, sagt Juliane heiser.
„Wir hätten ihn nicht alleine weggehen lassen dürfen!“, ruft Rasmus frustriert.
Lasses Finger fummeln an einem gerollten Fünfzig-Kronen-Schein herum. „Ich kenne Winky schon seit Jahren. Er ist einnetter Typ, der keinerlei Interesse daran hatte, jemanden zu provozieren. Er hatte auch keine Feinde. Also war es wohl kaum ein persönlich motivierter Überfall.“
„Natürlich war es das nicht“, antworte ich. „Keiner von uns kannte diese Typen.“
„Der mit der schiefen Nase heißt Michael“, sagt Juliane. „Das stand auf seiner Jacke.“
„Und der andere?“, fragt Lasse. „Habt ihr von dem auch einen Namen?“
„Nein, aber er war groß und rothaarig. Grüne Jacke.“
„Er hatte eine Eidechsentätowierung am Hals“, sage ich.
„Ja, verdammt!“ Juliane zeigt auf ihren Hals. „Eine große, blaue Tätowierung, die hier oben am Nacken anfing und bis zur Kehle ging. Total geschmacklos.“
„Es war meine Schuld“, winselt Rasmus.
„Nein, war es nicht“, entgegnet Lasse. „Du bist nicht für die Gewaltakte irgendwelcher Idioten verantwortlich.“
„Ich habe sie immer weiter provoziert!“
„Hör mal, das ist scheißegal, selbst wenn du sie um einen Blowjob gebeten hättest. Trotzdem haben sie kein Recht, auf euch einzuprügeln.“
Lasse macht Anstalten, sich zu erheben, sodass ich blitzschnell den Flyer aus der Tasche hole und ihn frage, ob er schon mal was von Angel Partys gehört hat. Er nickt und fragt, wo ich das alte Ding herhätte.
„Das lag bei einem meiner Freunde rum. Ich wüsste gern, ob er bei der Party dabei war.“
„Kannst du ihn das nicht selber fragen?“
„Er ist … zurzeit nicht da.“
Lasse setzt sich wieder hin. Er betrachtet den rosa Flyer und erzählt von den Partys, die der Engel vor ein paar Jahren veranstaltete. Die Gästeliste bestand aus der Crème de la Crème der schwulen Gesellschaft. Man wurde nur eingeladen, wenn man wer war oder etwas darstellte. Zur letzten Party wurden gesondert eingeladene Gäste aus ganz Europa eingeflogen. Es war das Wildeste, was man sich zu diesem Zeitpunkt vorstellen konnte. Die Partys von Engel fanden immer an entlegenen Orten wie Lagerhallen oder verlassenen Fabrikgebäuden statt. Die rosa Flyer galten als Eintrittskarte. Also war Jonathans Behauptung, man habe sie ihm einfach auf der Strøget zugesteckt, auf jeden Fall gelogen.
„Ich fasse es nicht, dass wir das verpasst haben!“, stöhnt Rasmus. „Das klingt so was von fett!“
„Es war auf jeden Fall groß aufgezogen. Bei der letzten Party wurden hundert weiße Tauben freigelassen. Eigentlich sollten sie durch eine offene Klappe im Dach wegfliegen. Stattdessen flatterten sie in der ganzen Halle herum und schissen die Leute voll.“
Juliane und Rasmus lachen. Sie kleben an Lasses Lippen.
„Ein anderes Mal wurden Seile unter dem Dach gespannt. Plötzlich sah man nach oben und dort hingen zwanzig Zirkusartisten in Engelskostümen. Es war total cool.“
„Und die haben nicht auf die Leute runtergeschissen?“, wage ich einen Versuch, witzig zu sein, aber niemand reagiert darauf.
„Und wer ist dieser Engel eigentlich?“, fragt Juliane. „Also im wahren Leben?“
„Das ist ja das Krasse!“, sagt Rasmus aufgeregt. „Niemand weiß, wer er ist.“
„Sicher heißt er Bent und arbeitet in einer Damenboutique“, schlage ich vor.
„Er ist total anonym!“, wiederholt Rasmus beharrlich. „Bei den Partys war er immer maskiert. Und seit der letzten hat niewieder jemand was von ihm gehört. Plötzlich hat er einfach keine Party mehr
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