Spieglein, Spieglein an der Wand
überschlagen. Rasmus, Carl-Philip, Arendse, Juliane, Winky – sie alle strömen ein und aus, schubsen einander weg, und dann tauchen auch die alten Bekannten auf und wollen dabei sein: Liv. Jonathan. Johannes Boye Lindhardt. Meine Mutter. Sogar Nicks Dad taucht auf, obwohl ich den Mann noch nie gesehen habe, dicht gefolgt von meinem eigenen Vater, der im Takt der Achtzigerjahre-Musik herbeigehüpft kommt.
I once had a Dad in Africa …
Und ich bin immer noch nicht ganz sicher, ob er nicht wieder dorthin zurückgeht.
Meine Gedanken und die Keyboard-Riffs jagen mich aus dem Haus. Meine Schritte finden ihren eigenen Rhythmus und ichhatte recht mit der Amsel: Sie singt. So weiß man, dass der Frühling wirklich da ist. Einige haben ihn sicher versäumt. Und obwohl ich Hans Scherfigs Roman Der versäumte Frühling über das traurige Schülerdasein in den Vierzigerjahren nie gelesen habe, weiß ich genau, was der Titel bedeutet, als ich Sandra sehe. Das Mädchen, das noch nie etwas versäumt hat, vor allem nicht, sich um sein Aussehen zu kümmern, sitzt ohne Make-up und gestyltem Haar vor mir. Ich habe Sandra noch nie ohne Kriegsbemalung und Balzklamotten erlebt, sodass ich zuerst denke, es sei etwas Schlimmes passiert. Erst dann fällt mir ein, dass sie in eineinhalb Monaten ihren letzten Schultag hat. Von Nick weiß ich, dass Sandras Noten in den letzten zwei Jahren immer schlechter geworden sind – und dementsprechend auch ihre Zukunftsperspektive. Sie wollte einmal Anwältin werden. Heute ist sie wahrscheinlich froh, wenn sie mit Ach und Krach das Abi schafft.
„Was willst du?“ Sandra klopft mit einem Kugelschreiber auf den Tisch und sieht mich ungeduldig an. „Nick ist nicht da.“
„Ich weiß. Ich wollte tatsächlich mit dir sprechen.“
Ich blicke fragend auf den leeren Stuhl neben dem Tisch und sie zuckt mit den Schultern, also setze ich mich. Wir haben uns noch nie richtig unterhalten, sodass ich mir ziemlich unbeholfen vorkomme, als ich ihr – so ganz ohne Handys und Alkoholfahne dazwischen – gegenübersitze.
„Ich möchte dich nur was fragen.“
Sie geht sofort in die Offensive: „Ich weiß ja nicht, was Kasper über mich erzählt hat, aber es ist auf jeden Fall gelogen.“
„Kasper?“
„Ja, er hat gesagt, dass ihr zusammen auf einer Hochzeit wart.“
„Das stimmt.“
„Und was wolltest du mich fragen?“
Ich mache sofort eine Übersprunghandlung und nicke zu den Büchern auf ihrem Tisch. „Deutsch?“
„Ja, und Geschichte. Ich muss für alle Fächer lernen.“
Ich starre auf die Bücher. Aber die Frage, die ich den ganzen Weg hierher im Kopf vorbereitet habe, kommt mir nicht über die Lippen.
Sandra seufzt. „Mateus, ich habe nicht den ganzen Abend Zeit!“
„Jonathan?“
„Was ist mit ihm?“
„Ihr wart mal ein Paar?“
„Das hast du von Kasper.“
Ich nicke. Und registriere, dass sie es nicht abstreitet.
„Okay. Jonathan und ich waren ein paar Wochen lang zusammen, aber das ist lange her. Nick braucht es nicht zu erfahren.“
Da hat sie recht. Jonathan und Sandra hatten damals das Recht, zusammen zu sein, mit wem sie wollten, aber ich glaube kaum, dass man Nick das plausibel machen könnte.
„Ich sage Nick nichts“, entgegne ich. „Ich wollte dich nur etwas fragen.“
„Und was?“
„Hattet ihr … äh … Sex?“
Sandra entgleiten vor Verblüffung alle Gesichtszüge. „Was?“
„Ich habe in letzter Zeit ein paar Dinge über Jonathan gehört. Gerüchte, dass er vielleicht auch auf Jungs stand, und da dachte ich …“
„Und diesen Mist glaubst du?“
„Ja, was weiß ich denn schon?“
„Du weißt nicht einen Scheiß!“
„Nein, deswegen frage ich dich ja auch.“
Sandra kratzt mit ihrem Kuli auf dem Tisch herum und murrt. „Warum fragst du nicht einfach eine seiner anderen Freundinnen?“
„Weil er nicht sonderlich viele hatte.“
Eigentlich hatte Jonathan nie wirklich Freundinnen, obwohl es ihm nicht an Angeboten mangelte. Es gab viele Mädchen, die in ihn verliebt waren. Viel Gekicher und viele Blicke, die ihn auf den Gängen unserer alten Schule verfolgten, aber Jonathan schien sie nie zu bemerken.
Oder ignorierte sie einfach.
„Hast du Liv auch gefragt?“ Jetzt liegt eine gewisse Giftigkeit in Sandras Stimme. Sie kann Liv nicht ausstehen.
„Ja, aber das ist privat.“
„Sie weiß genau, dass ich mit Jonathan zusammen war.“
„Echt?“
„Ja, ich habe es ihr selbst erzählt. Vor einem halben Jahr.“
Nicht gerade
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