Spieglein, Spieglein an der Wand
viel Zeit mit Rasmus und „dieser Lesbe“ verbracht habe, da ich neuerdings überall Homos herumspuken sehe. Über seinem Gesicht liegt heute ein finsterer Schatten, der vielleicht etwas mit seinem Vater zu tun haben könnte. Nach vielen Jahren Abwesenheit ist Douglas nämlich plötzlich wieder aufgetaucht. Bis auf Weiteres hat er wohl die Erlaubnis bekommen, auf dem Sofa zu schlafen, aber Nick hat ansonsten keine große Lust, über ihn zu reden. Er hat den Wunsch, sein englischer Vater würde in Dänemark Wurzeln schlagen, längst zu den Akten gelegt.
Liv springt auf und nennt mich krank im Kopf. Was ich eigentlich damit andeuten wolle?! Ihre Schnürsenkel wehen hinter ihr her, als sie vom Platz rennt, auf ihr Fahrrad hüpft und in der frühen Dunkelheit zwischen den Häusern verschwindet. Sie vergisst ihre Tasche, die am Zaun lehnt. Nick sagt, ich solle endlich aufhören, mich die ganze Zeit wie ein kompletter Idiot zu benehmen. Schiebetür und Schrank kommen wieder zurück. Schiebetür sieht Liv hinterher und erkundigt sich, was denn gerade passiert ist. Schrank geht von vornherein davon aus, dass ich der Übeltäter bin und sagt, ich hätte wohl sehr ausgeprägte Fähigkeiten, Liv zu vergraulen. Nick schnappt seine Jacke und schüttelt den Kopf. Dann geht auch er. Game Over.
Ich radle zur Riesenvilla. Eine Frau Mitte fünfzig lässt mich herein. Ich will ihr gerade erklären, wer ich bin, als sie mir den Rücken zuwendet und einen Staubsauger einschaltet, zutiefst desinteressiert daran, wer die Freunde der Tochter ihrer Arbeitgeber sind. Also schleiche ich die Treppe zum ersten Stock hinauf, wo die Tür zu Livs Zimmer nicht nur geschlossen, sondern auch abgeschlossen ist. Aber sie ist da, denn ich höre leise Musik aus dem Raum dringen. Normalerweise hat Liv ja einen ganz akzeptablen Musikgeschmack, aber in diesem Moment sickern Simon & Garfunkel wie geschmolzene Butter unter der Tür hindurch. When you’re weary, feeling small.
Ich warte eine Strophe ab und klopfe an.
„Hau ab, Carl-Philip!“
„Äh, Liv, ich bin es. Schließt du bitte auf?“
… like a bridge over troubled water, I will lay me down …
Dann sind Schritte zu hören und ein Schlüssel wird im Schloss umgedreht. Als ich die Tür öffne, ist Liv schon wieder auf dem Weg durchs Zimmer. Es ist größer als ein ganzes Stockwerk bei mir zu Hause in der Weyesgade. Das letzte bisschenTageslicht sickert durch einen großen, nach Westen zeigenden Erker mit einer Bank darunter. Auf der Bank, zwischen einer Menge Kissen, sitzt Liv und starrt in den Garten. Die Kissen und die langweilige Jammerstimme aus dem Lautsprecher sind die einzigen mädchenhaften Dinge hier. Der Rest ist Chaos, alle Flächen sind mit Klamotten und Büchern bedeckt.
„Du hast deine Tasche vergessen.“
Ich stelle ihre Tasche auf den Boden und setze mich ans andere Ende der Erkerbank. Liv blickt in den dunklen Garten hinab und ich kann sehen, dass sie mit den Gedanken weit weg ist. Zwei Jahre weit weg. Sie öffnet den Mund und sagt das Einzige, womit ich nicht gerechnet hatte: „Vielleicht mochte Jonathan tatsächlich lieber Jungs.“
„Aber er war doch verrückt nach dir.“
„War er das? Wir waren ja nicht besonders lange zusammen. Ich denke an diese Zeit zurück, als wären es Monate gewesen, aber in Wirklichkeit waren es nur ein paar Wochen.“
Sieben. Ich habe jede einzelne davon gezählt.
Liv legt sich ein Kissen auf den Schoß und nestelt an einer Ecke herum. „Das war nicht genug, um einander richtig kennenzulernen. Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, er würde irgendwas vor mir verbergen.“
„Er war verrückt nach dir“, wiederhole ich dämlich, obwohl ich es eigentlich gar nicht weiß. Ich habe nie mit Jonathan über Liv gesprochen, und wenn ich die beiden zusammen sah, habe ich immer nur sie beobachtet. Wie ein masochistischer Fakir stach ich mir mit ihrem verliebten Blick selbst in Herz, Bauch und Eier. Sie war auf jeden Fall in ihn verliebt.
Liv seufzt. „Vielleicht hat er mich einfach nur zur Tarnung gebraucht.“
Wenn Jonathan Liv nur benutzt hätte, könnte ich das nichtakzeptieren. Dann hätte er mich nämlich zu psychischem Kartoffelbrei gestampft, indem er sich das Mädchen angelte, in das ich völlig verknallt war, nur damit niemand merken sollte, dass er auf Jungs stand.
„Vielleicht war etwas dran“, sagt Liv monoton. „Was weiß ich.“
„Das müsstest du doch wohl gemerkt haben!“ Ich richte all meine Aggression gegen Liv,
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