Spieglein, Spieglein an der Wand
weil Jonathan nicht hier ist, um sie abzukriegen. Das ist nicht angemessen und ich weiß es genau, deshalb muss jetzt irgendein bescheuertes Spielzeug-Eichhörnchen einen Sturzflug durchs Zimmer erleiden, weil ich meine Wut an irgendjemandem auslassen muss. „Ihr wart zusammen! DICH wollte er haben!“
„Ja, aber nur begrenzt.“
„Was?!“
„Jonathan und ich waren nie miteinander im Bett.“
Ihre Stimme ist nur ein leiser Hauch, und Art Garfunkel jammert noch immer aus der Anlage, also habe ich mich vielleicht verhört? So muss es sein. Jonathan und Liv trieben es doch wie die Kaninchen. Tag und Nacht. In allen Stellungen. Liv bekam einen Orgasmus nach dem anderen und klammerte sich an seinen Körper, sie stöhnte und winselte, zerkratzte seinen Rücken mit ihren Fingernägeln und schrie, dass sie ihn liebte.
Jedenfalls haben sie das in meiner Vorstellung getan. Und zwar ständig.
„Wir haben in einem Bett geschlafen“, murmelt Liv, „aber wir hatten nie richtig Sex.“
„Wollte er nicht?“
„Doch, ich glaube schon. Wir kamen nur einfach nicht mehr dazu.“
Ungläubigkeit mischt sich mit einem Gefühl des Triumphs.Denn es kann schon sein, dass Jonathan mit Liv zusammen war, aber wer war noch derjenige, mit dem sie ins Bett stieg? Plötzlich kann ich ihren Frust nach der Nacht in dem Bücherlager besser verstehen. Sie konnte mir die Kleider gar nicht schnell genug vom Leib reißen. Leider bereitet es ihr im Gegensatz zu mir seit diesem Erlebnis anscheinend keine Probleme, im Zölibat zu leben.
„Ich bin mir sicher, dass es nichts mit dir zu tun hatte“, sage ich.
Wir sitzen eine Stunde lang im Erker und sprechen von Jonathan, aber das Gespräch fließt nur zäh dahin. Es ärgert mich, dass ich mich mit ihm zerstritten hatte und in Liv verknallt war, als die beiden zusammenkamen, denn so können wir jetzt nicht auf gemeinsame Erlebnisse mit ihm zurückblicken. Damals hätte ich mir lieber Holzsplitter unter die Nägel schieben lassen, als das fünfte Rad am Wagen des glücklichen Paares zu sein. So geht es mir eigentlich immer noch, aber es ist trotzdem schade, dass Liv und ich Jonathan nie gemeinsam erlebt haben. Es gibt keine „Wir drei“-Momente. Die könnten wir jetzt gut gebrauchen. Ich weiß höchstens, wie es in diesem Sommer hätte werden können und wie wir jetzt darüber sprechen würden. Liv hätte einen Abend erwähnen können, an dem wir zu dritt im Tivoli waren und Jonathan, dem alten Waschlappen, von den Fahrgeschäften schlecht wurde und er daraufhin in ein Blumenbeet kotzte.
Kannst du dich noch an das Konzert im Fælledpark erinnern, als wir billigen Weißwein tranken und ich Jonathan helfen musste, dich nach Hause zu tragen?
Und was ist mit dem Mal, als du für uns kochen wolltest, und dann brannte dir alles an, und du batest uns, stattdessen ein paar Pizzas mitzubringen?
Aber es wurde trotzdem ein schöner Abend. Es war im August, w ährend einer Hitzewelle. Und wir saßen bis drei Uhr nachts im Garten.
Du warst diejenige, die dann auf die Idee kam, zum Strand in Hellerup zu fahren, und Jonathan musste uns unbedingt beweisen, dass er auf den Händen laufen konnte.
Dabei konnte er es gar nicht. Dieser Clown.
Es war ein schöner Abend.
Ja.
Am Ende des Flurs wartet der frischgebackene Revoluzzer auf mich. Er kommt aus seinem Zimmer und fragt, ob ich mal fünf Minuten hätte. Als wir neu auf dem Gymnasium waren, machten Liv und ich ein paar Mal zusammen Hausaufgaben. Das war in dem ziemlich kurzen Zeitraum, in dem ich immer noch hoffte, sie würde einsehen, dass Jonathan ein Irrtum war und sich stattdessen in mich verlieben. Während ich mit Liv zusammensaß und mich mit Mathe und allerlei unpassenden Gedanken rumschlug, geisterte Carl-Philip im Stockwerk herum und nervte, wie nur kleine Brüder es können. Er fragte uns ständig, ob wir „gebumst hätten“, sobald Liv oder ich die Zimmertür öffneten. Oder er hämmerte nebenan mit den Füßen gegen die Wand, beleidigt, weil wir ihn rausgeworfen hatten. Es war nicht schwer zu durchschauen, dass er in erster Linie einsam war und unsere Nähe suchte, aber Liv ging hoch wie eine Silvesterrakete, sobald sich der kleine Bruder näherte. Ich als Einzelkind hatte keine Ahnung, ob es okay war oder unangemessen, wenn sie ihm den Arm auf den Rücken drehte und ihn mit dem Kopf voran aus dem Zimmer warf. Heute würde sie ihn wohl nicht mehr so leicht übermannen können, aber das ist sicher auch gar nicht nötig, denn
Weitere Kostenlose Bücher