Spieglein, Spieglein an der Wand
aus der Hand. „Ich lasse einen Abend lang so richtig die Sau raus und zeige es den Idioten aus der Dreizehnten. Und dann bin ich wieder der normale, langweilige Rasmus.“
„Richtig normal wirst du garantiert nie.“
„Oder langweilig.“
„Doch, das bist du sogar ziemlich oft.“
Er lacht und legt das Kleid wieder zusammen. „Wie auch immer, aber eigentlich wollte ich dir auch gar nicht das Kleid zeigen. Das war nur der Bonus. Bist du gerade online?“
„Nee, das lässt sich aber ändern.“ Ich schalte den Computer ein.
„Was genau hast du eigentlich zu Juliane gesagt?“
Ein blitzschneller Themenwechsel von Rasmus – und plötzlich stehe ich im Fokus. Ich rede ein bisschen um den heißen Brei herum, aber Rasmus und Juliane erzählen einander alles, also weiß er natürlich ganz genau, was ich gemacht habe.
„Ziemlich frech, ihr einfach mal vorzuwerfen, sie wäre doch nicht lesbisch.“
„Das war kein Vorwurf.“
Rasmus fängt an, mich in den Bauch zu boxen. „Wann kapierst du endlich, dass sie nicht auf Schwänze steht? Weder auf deinen noch auf irgendeinen anderen? Such dir eine andere Mimöse als Juliane, denn sie teilt ihre nun mal nur mit anderen Mädels.“
Natürlich endet das Ganze in einer Rauferei. Brutal, kurz und unschön.
Ich gewinne.
Rasmus steckt kopfüber in meinem Sitzsack und japst nach Luft, als ich aus unserer Ringerstellung aufspringe und zum Fenster hinübergehe. Mein Vater ist fast fertig mit den Büschen, sie liegen auf den Gehwegplatten wie vertrocknete Leichen. Dabei waren sie kurz davor, auszuschlagen.
„Hast du schon das Allerneuste gehört?“
Ich antworte nicht. Mein Körper ist in Aufruhr. Er will sich weiter prügeln. Noch lieber hätte er eigentlich Sex, aber wenn er das nicht kriegen kann, will er sich prügeln.
„Es wird eine neue Angel Party geben. Diesmal auf Holmen. In einer Woche.“ Rasmus rollt sich seitwärts vom Sitzsack herunter und wühlt in seinen Taschen. „Ich hab was für dich. Habe ich von Lasse bekommen.“
Rasmus reicht mir zwei rosa Flyer: Angel Party No. 4. By invitation only.
Ich nehme sie nicht entgegen, also legt Rasmus sie auf den Schreibtisch. „Du nimmst einfach einen netten Freund mit, ja?“
„Ich glaube, das ist nichts für mich.“
„Es wird so groß wie nie. Sie haben fünfhundert Einladungen verschickt. Außerdem ist das der erste öffentliche Auftritt des Engels seit über zwei Jahren.“
„Ich kann es kaum erwarten. War es das, was du mir zeigen wolltest?“, frage ich, immer noch in aggressiver Stimmung, auch wenn es mich natürlich brennend interessiert, wer der Engel ist.
„Nope. Es ist was viel Krasseres.“ Rasmus setzt sich an den Computer. „Heute Morgen habe ich eine Mail bekommen. Nur mit einem Film im Anhang, sonst war sie leer.“
Für einen kurzen Moment glaube ich, Ikarus wäre wieder aufgetaucht, in seiner Funktion als Absender von suspekten Filmchen, aber es ist eine andere E-Mail-Adresse.
„Kennst du den Absender?“
„Nee, es ist eine Hotmail-Adresse.“
Der erste Teil der Adresse lautet „a.angels“, dann folgen eine Menge Zahlen.
„Das A steht für Avenging “, erklärt Rasmus. „ Avenging Angels . Racheengel.“
„Woher weißt du, dass das A genau dafür steht?“
„Das erklärt sich gleich von selbst. Guck mal hier.“ Rasmus öffnet die Datei. Der Film sieht aus, als wäre er mit einem Handyaufgenommen worden. Dunkle Gestalten laufen in einem Hof oder einer Gasse umher. Dahinter sieht man eine Mauer mit einer einfachen Laterne, die einen runden Lichtschein auf den Asphalt wirft. Ein paar Container. Jemand wird zusammengeschlagen. Fünf oder sechs dunkel gekleidete und maskierte Typen drangsalieren zwei Opfer. Vielleicht hatten sie Widerstand geleistet, bevor sie in den Hof gelangten, doch als die Aufnahme beginnt, haben die beiden aufgehört, sich zu wehren. Der eine Mann steht einige Sekunden lang unter dem Laternenschein an der Mauer. Er ringt nach Luft. Blut läuft ihm über das Gesicht und bildet ein rotes Delta über einer schiefen Nase, die schon einmal gebrochen war.
Rasmus spielt den Film von Neuem ab.
Die Gewalttäter arbeiten wie eine Mannschaft. Sie führen eine Aufgabe aus, bei der die Rollen klar verteilt sind. Ein paar von ihnen halten die Opfer fest, die anderen schlagen zu. Der letzte Mann filmt. Es ist keine Panikaktion, keine unkontrollierte Aggression. Dieser Überfall ist ein Urteil, das vollstreckt wird, und dessen Exekution die Kamera bezeugen
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