Spiel der Angst (German Edition)
Windböe, furchte durch Emilys Haar – und ergriff das Blatt Papier. Nein, das durfte nicht passieren! Instinktiv zuckte ihre Hand nach vorn, fasste das Papier, sodass es sich zusammenknüllte. Dann ließ sie sich auf den Boden der Gondel fallen, das Handy neben sich, das Papier in ihrer Faust.
Und übergab sich.
70
Wieder unten schauten sie auf das Blatt Papier, das Emily aus eisiger Höhe geholt hatte. Dort stand:
WO STREBT DIE UNABHÄNGIGKEIT IN DIE HÖHE, SO EXAKT, WIE NIRGENDS SONST?
Beide blickten sich erst einmal verdutzt an.
Der zweite Satz änderte allerdings ihren Gesichtsausdruck.
SEID IN VIERZIG MINUTEN DA, SONST GEHT ES EINEM IRISCHEN PRINZEN SCHLECHT.
»Verdammt«, fluchte Emily. »Das wird mal wieder ganz schön knapp!«
»Dann hilf mir mal, welche Unabhängigkeit meint der denn jetzt wohl?«
Emily biss sich auf die Lippen, als könnte sie so das Wissen aus sich herauspressen, während Julia weiter überlegte.
»Unabhängigkeit, Independence Day«, murmelte Julia. »Das muss doch irgendein Datum sein, oder was meinst du?«
Emily war noch immer grün im Gesicht von der Reise mit der Reinigungskabine und konnte nicht so recht antworten.
Julia zog ihr Smartphone hervor.
»Unabhängigkeitstag … Unabhängigkeitserklärung … Ah, hier haben wir’s ja!«
Emily beugte sich über das Smartphone.
»1776 gab es die Unabhängigkeitserklärung der USA.« Julia hob den Kopf und sah Emily an. »Und an dem Tag wurde ja auch der Illuminatenorden gegründet, hatte ich dir ja gesagt.«
Emily verdrehte die Augen.
»Aber wo strebt die in die Höhe?«, fragte Emily.
Julias Augen leuchteten auf. »Vielleicht ist das so ähnlich wie damals in London? St. Paul?«
»Was war da noch?«
»Mann, Em, das Jahr, das in die Höhe strebt. Das waren 365 Fuß beim Turm von St. Paul.«
»Dann hätten wir hier also 1776 Fuß, die in die Höhe streben? Wow, ist ja etwas mehr.«
Sie schaute auf die Uhr.
Noch fünfunddreißig Minuten.
»Mist, wir müssen los!«
»Aber wohin?«
»Irgendwas, was 1776 Fuß hoch ist. Wie viel ist denn das in Metern?«
Julia nestelte an ihrem Smartphone. »Bestimmt mehr als fünfhundert Meter.«
»So was Großes muss doch auffallen.«
»Würde ich auch denken.«
Emily richtete ihren Blick nach innen, dachte noch einmal an die paar Minuten oben im Empire State Building, und was sie dort gesehen hatte. Dann fiel es ihr wieder ein! Dieses riesige Gebäude an der Südspitze von Manhattan. Es war noch nicht fertig, aber es hatte sich wie ein gigantischer Obelisk aus den anderen, auch nicht gerade kleinen Wolkenkratzern erhoben. Doch dieser hatte alle überragt.
»Schau mal schnell bei Maps«, sagte Emily. »Oder, nein, dauert viel zu lange.« Sie blickte sich um. »Wir fragen einfach … Hey, Taxi!«
Das gelbe Taxi hielt mit quietschenden Reifen.
Noch dreißig Minuten.
»Wo soll’s hingehen?«, erkundigte sich der Fahrer.
»Kennen Sie ein Gebäude, das gerade im Süden Manhattans gebaut wird und das über fünfhundert Meter hoch ist?«
Der Fahrer guckte sie verdutzt an. »Klar, Miss, Sie etwa nicht? Das ist der Freedom Tower. Wobei er jetzt One World Trade Center heißt, obwohl die meisten immer noch Freedom Tower sagen. Wird nächstes Jahr fertig. Steht jetzt da, wo mal früher das World Trade Center stand.«
Freedom Tower. Also wieder ein halbfertiger Wolkenkratzer, auf densie hinauf musste.
»Da müssen wir hin! Und zwar schnell.«
»Okay.« Der Fahrer gab Gas.
»Man kann aber noch nicht rauf.«
»Wollen wir auch nicht«, versicherte Julia.
Doch Emily wusste genau, dass sie wahrscheinlich genau das mussten.
71
Noch achtundzwanzig Minuten.
Sie saßen im Taxi Richtung One World Trade Center. Im Radio des Wagens lief Shout von Tears for Fears. Es war ein Song, der lange vor Emilys Zeit in die Hitparaden gekommen war. Doch er wurde noch immer gespielt, und daher kannte Emily ihn. Genau so, wie sie Satisfaction von den Rolling Stones und We are the Champions von Queen kannte.
Vor ihnen baute sich die gigantische Fassade auf. Julia hatte ihr Smartphone geöffnet und erzählte Emily von dem gigantischen Bauwerk. Emily hörte nur mit einem Ohr hin. Heute Abend, das wusste sie, als sie in den rötlichen Abendhimmel blickte, dessen Fläche von der unfertigen Spitze des One World Trade Centers durchschnitten wurde – heute Abend würde der entscheidende Abend sein.
Du hast die Wahl, Emily, hatte Jonathan damals gesagt, Sieg oder Tod. Das dachte sie, als sie die Silhouette
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