Spiel der Schatten (German Edition)
meine, ich dachte, dass ich das weiß. Aber seit er zurück ist, scheint irgendwie alles anders zu sein.«
»Seit er zurück ist?«
Cyn nickte. »Wie du weißt, ist er gestern Abend spazieren gegangen. Nachdem er allen eröffnet hatte, dass das Theater verkauft wird.«
»Und?«
»Vergangene Nacht ist er nicht nach Hause gekommen.«
»Und?«, fragte Lucy noch einmal.
»Das ist überhaupt nicht seine Art«, erklärte Cyn. »Er ist noch nie so lange weggeblieben. Ich habe mir ganz schreckliche Sorgen um ihn gemacht, sogar bei der Polizei bin ich gewesen!«
»Kind.« Lucy blieb stehen und legte beschwichtigend die Hände auf Cyns Schultern. »Ich kann mir denken, wie furchtbar das für dich gewesen sein muss, und es tut mir wirklich leid. Aber du musst auch bedenken, wie schlimm das alles für deinen Vater ist. Das Penny Theatre war sein Leben. Wenn die Schließung schon uns so hart trifft, möchte ich mir gar nicht ausmalen, wie schrecklich das alles für ihn sein muss. Albert, Nancy, Hank und ich – wir verlieren nur eine Arbeitsstelle, wenngleich die beste, die man haben kann. Dein Vater jedoch verliert noch viel mehr, das solltest du nicht vergessen.«
»Das stimmt«, brummte Albert, der ebenfalls stehen geblieben war und zugehört hatte.
»Ich weiß«, versicherte Cyn an beide gewandt. »Das tue ich ja auch gar nicht. Es ist nur …«
»Um sich von den Sorgen des Alltags zu befreien, bleiben Männer bisweilen über Nacht fort«, fügte Lucy erklärend hinzu. »Dann gehen sie manchmal an Orte, die … die …« Sie errötete, schien nach passenden Worten zu suchen.
»Auch das weiß ich schon«, half Cyn ihr aus, »aber an einem solchen Ort ist Vater nicht gewesen. Er war im Caligorium.«
»Im Caligorium?«, fragte Albert so laut, dass sich einige Passanten nach ihnen umdrehten. Sogar Lucys kleine Augen weiteten sich für einen Moment.
»Es ist wahr«, versicherte Cyn.
»Hat er dir das gesagt?«, wollte Lucy wissen.
»Nein, aber in der Tasche seines Mantels habe ich eine abgerissene Eintrittskarte gefunden.«
»Und hast du ihn darauf angesprochen?«
»Das habe ich.« Cyn nickte. »Aber er erinnert sich nicht, dort gewesen zu sein. Er sagt, er weiß nicht, was er vergangene Nacht getan hat.«
»Vielleicht schämt er sich«, vermutete Albert.
»Ja«, stimmte Lucy zu. »Womöglich wollte er einmal mit eigenen Augen sehen, was unserem Theater das Genick gebrochen hat, und nun ist es ihm peinlich. Zumal er weiß, dass du dir Sorgen gemacht hast.«
»Meint ihr?« Cyn horchte in sich hinein. Vielleicht hatten die beiden ja recht und sie war nur wütend, weil ihr Vater sich einen schönen Abend im Theater gemacht hatte, während sie zu Hause vor Furcht und Sorge fast umgekommen war. »Aber was war danach?«, fragte sie dennoch. »Ich meine, wieso ist er nicht nach Hause gekommen, nachdem die Vorstellung zu Ende war? Und warum hat er sich so verändert? Seit Vater zurückgekehrt ist, ist er einfach nicht mehr er selbst.«
»Inwiefern, Kind?«
»Er scheint völlig abwesend«, berichtete Cyn, »und er spricht nur noch, wenn er gefragt wird, und auch dann ist er einsilbig. Die Welt um ihn herum scheint ihn nicht mehr zu interessieren …«
»Und das willst du ihm verdenken, nach allem, was geschehen ist?« Lucy strich ihr sanft über die Wange. »Wie ich schon sagte, Kind, dein Vater hat fast alles verloren, das ihm etwas bedeutet hat. Zuerst seine geliebte Frau, und nun auch noch das Theater. Nur du bist ihm noch geblieben, deshalb ist es wichtig, dass du zu ihm hältst in diesen Tagen und ihm dabei hilfst, diese Zeit zu überstehen. Sicher wird sich sein Zustand schon bald wieder bessern.«
»Versprochen?«, fragte Cyn mit Tränen in den Augen – und kam sich nun doch wieder vor wie ein kleines Mädchen.
Lucy tauschte einen hilflosen Blick mit Albert, dann zog sie Cyn an sich heran und nahm sie in ihre kurzen aber festen Arme. Cyn erwiderte die Umarmung. Es tat gut, sich an jemandem festhalten zu können. Sie schloss die Augen, worauf der Fluss ihrer Tränen versiegte und sie tatsächlich so etwas wie Hoffnung verspürte. Als sie die Augen jedoch wieder öffnete, machte Cyn eine seltsame Entdeckung.
Die Menschen in ihrer Umgebung – sowohl die Passanten als auch die Händler – schienen sie mit bohrenden, ja argwöhnischen Blicken zu bedenken. Oder bildete sie sich das nur ein? Schon einen Augenblick später schien wieder alles wie gewohnt zu sein. Die Menschen gingen alle ihren Tätigkeiten nach,
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