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Spiel der Schatten (German Edition)

Spiel der Schatten (German Edition)

Titel: Spiel der Schatten (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Peinkofer
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wirklich wahrzunehmen, sondern vielmehr durch sie hindurchzusehen, gerade so, als wäre sie aus Glas. »Ich weiß es nicht«, gestand er dann.
    »Du … weißt es nicht?«
    »Nein«, gab er zu und löffelte weiter, als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als die Schüssel vor ihm auf dem Tisch.
    Cyn, die nicht wusste, ob sie darüber besorgt, traurig oder einfach nur wütend sein sollte, schaute sich hilflos in der Stube um. »Wo ist der Puck?«, fragte sie, als sie die Puppe, die ihren Vater stets begleitete, nirgendwo entdecken konnte.
    Wieder bedachte er sie mit diesem glasigen Blick. »Der Puck?«, fragte er.
    Cyn schauderte. Konnte es sein, dass er sich tatsächlich nicht mehr erinnerte? Plötzlich überwog ihre Sorge. »Der Puck«, bestätigte sie, »deine liebste Bauchrednerpuppe. Du hattest sie dabei, als du fortgingst.«
    »Ah«, machte er und aß weiter. »Er ist nicht hier.«
    »Was soll das heißen? Wo ist er?«
    Der alte Horace zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Ich habe ihn wohl verloren.«
    »Du … hast den Puck verloren ?« Cyn konnte nicht glauben, was sie da gerade hörte.
    Der kleine Kobold war ungleich mehr als nur eine simple Puppe. Mit ihm hatte alles angefangen – mit ihm und Shakespeares »Sommernachtstraum«, dem ersten Stück, das Horace Pence in seinem Theater aufgeführt hatte, insofern war es nur konsequent gewesen, dass auch der letzte Vorhang mit diesem Stück gefallen war.
    Der Puck stand stellvertretend für all das, was das Penny Theatre ausgezeichnet hatte. Wie keine andere Puppe verkörperte er Horace Pences Vision, den kleinen Leuten die großen Dramen dieser Welt auf unterhaltsame Weise nahezubringen. Er symbolisierte die Lebensfreude und die Verspieltheit, die Cyns Vater stets ausgezeichnet hatte und die sie so an ihm liebte – nicht selten hatte sie das Gefühl gehabt, dass der Kobold tatsächlich lebte und der beste Freund ihres Vaters sei. Die beiden waren unzertrennlich gewesen, im wahrsten Sinn des Wortes – und nun erklärte ihr Vater ihr ganz einfach, dass er den Puck verloren hätte?
    »Wo hast du ihn verloren?«, hakte Cyn nach, die den Gedanken, dass die Puppe nun irgendwo einsam und verlassen herumlag, selbst unerträglich fand. Geradeso, als wären mit ihr auch die guten und fröhlichen Zeiten verloren gegangen. »Möchtest du, dass ich nach ihm suche?«
    »Nein.« Ihr Vater schüttelte den Kopf. »Ist nicht notwendig. Nichts ist notwendig.«
    »Nichts ist notwendig?« Cyn schluckte hart. »Vater, verzeih, aber das klingt nicht nach dir. Ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber du …« Sie berührte ihn an der Schulter, und er wandte sich ihr zu – und wieder erschrak sie, als sein Blick durch sie hindurch ins Leere ging.
    »Alles ist in Ordnung«, versicherte er und löffelte weiter in seiner Schüssel.
    »Wo sind die anderen?«, wollte Cyn wissen.
    »Welche anderen?«
    »Lucy und Nancy, Albert und Hank«, erwiderte sie.
    »Weiß nicht«, sagte er nur, und es klang so gleichmütig, dass sie nur noch mehr darüber erschrak.
    »Du weißt es nicht?«
    »Nein, Kind.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht – und es schert mich auch nicht.«
    »Aber sagtest du nicht immer, dass das Theater dein Leben sei? Dass die Menschen, die hier arbeiten, unsere Familie seien?«
    »Sagte ich das?« Er zuckte mit den Schultern, sein Mund dehnte sich zu einem schwachen Lächeln. »Dumm von mir, nicht wahr?«
    »Nein.« Cyn schüttelte den Kopf. »Das finde ich ganz und gar nicht. Du hast mir beigebracht, dass man Verantwortung trägt für die Menschen, die einem anvertraut sind.«
    »Verantwortung.« Er nickte, aber sein Blick blieb so leer wie zuvor. Cyn brach es das Herz, ihn so zu sehen.
    »Was ist nur los mit dir, Vater?«, fragte sie und konnte nicht verhindern, dass sich ihre Augen abermals mit Tränen füllten. »Kümmert es dich denn überhaupt nicht, dass das Theater geschlossen wird? Dass wir in ein paar Tagen keine Arbeit mehr haben werden, kein Dach mehr über dem Kopf?«
    Wieder betrachtete er sie mit jenem leeren Blick.
    »Nein«, sagte er dann und wandte sich wieder der Schüssel zu, die er bis auf den Grund auslöffelte. »Es spielt keine Rolle. Nichts spielt mehr eine Rolle.«
    Cyn war wie erstarrt vor Entsetzen.
    Der Mann, der dort auf dem Stuhl saß, war ganz eindeutig ihr Vater, und doch erkannte sie ihn kaum wieder. Was in der vergangenen Nacht geschehen war, konnte sie nur vermuten. Die Schließung des Theaters, der Verlust seiner

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